Kapitel 1

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"Seltsam."
Immer wieder lese ich mir das Wort durch, das einer meiner Mitschüler auf einen kleinen Zettel geschrieben hat. Kurz vor den Sommerferien zog jeder aus meiner Klasse ein Los mit einem Namen meiner Mitschüler, als auch meinen Namen. Zu dieser Person sollten wir ein Wort aufschreiben, das uns zuerst einfällt. Ein Wort, das uns an die Person erinnert. Ein netter Gedanke meiner Klassenlehrerin zum Abschluss des Schuljahres. Es war auch nett. Außer für mich. Bei allen Mädchen standen Wörter wie "Hübsch.", "Süß." oder "Lustig.". Außer bei mir, "Seltsam". Anhand der missförmigen Schrift erkannte ich, dass dies nur ein Junge geschrieben haben konnte. Nun, man könnte an dieser Stelle denken, es wäre nur so ein winziger Scherz irgendeines Jungen. Aber das war es nicht. Ich wusste, dass alle Menschen, denen ich begegne so reagieren.
Schon als kleines Kind war ich ein Außenseiter. Während andere Kinder ausgelassen spielten, konnte ich mit fünf Jahren schon längst lesen. Jedoch nicht aus dem annehmbaren Grund, dass meine Eltern mich zu einem dieser hochbegabten Kinder machen wollten. Nein, ich wollte es so. Sobald ich sprechen konnte, bestand ich darauf, lesen zu lernen. Ich versuchte schon früh, mich aus dieser Welt des Scheins zu flüchten. Und diese Flucht fand ich in Büchern. Ich verstand die meisten Menschen noch nie. Sie lügen alle. Den ganzen Tag lang lügen sie. Warum? Weil die Gesellschaft aus Egoismus besteht. Aus Egoismus, Macht, Geld und nochmal Geld. Darauf, aus dieser tugendlosen Gesellschaft will ich mich absondern. Ist das wirklich so schlimm? Bin ich deswegen tatsächlich anders?

"Warum sind Sommerferien vergänglich?"
"Warum ist das Leben vergänglich?"
"Dieser Punkt ging wohl an dich, Mama."
Meine Mutter lächelte. Sie war schön, wenn sie lächelte. Doch dieser Tage war mir nicht zum Lachen zumute, denn die Schule begann an diesem wolkenverhangenen Montag. Doch es half nichts. Ich musste.
Meine Mutter fuhr mich, die ganze Autofahrt blieb es still. Als ich mir meinen Rucksack nahm und aussteigen wollte, sah meine Mutter mich an.
"Versuch doch dieses Jahr mal ein paar Freunde zu finden, Süße.", sagte sie besorgt.
"Tschüss.", antworte ich energisch. Ich stieg aus und schlug die Autotür zu. Sie wusste doch genau, wie ich bin. Freunde. Wäre mein Leben ein Buch, dann wäre 'Freunde' nur eine unbedeutende Ellipse in dieser Geschichte.
Ich war wie so oft die erste im Klassenraum. Meine Klassenlehrerin, Frau Meyer, lächelte mich an und ich versuchte, zurück zu lächeln. Wie jedes Jahr setzte ich mich in die letzte Reihe an das Fenster und musterte meine nacheinander in den Raum eintretenden Klassenkameraden. Sie hatten sich nicht verändert. Die Mädchen sahen immer noch gleich aus mit ihren schwarzen Handtaschen, in denen sich unmöglich ihre Schulsachen befinden konnten, ihren gleichen, perfekt gezupften Augenbrauen, ihrem gleichen MakeUp und ihrem komplett gleichem Kleidungsstil. Keine Individualität, keine Kreativität. Und die Jungs, alle mit dem gleichen arroganten Ausdruck. Ich merkte, wie sehr ich meine Klasse verabscheute.
Sobald es klingelte, setzten sich alle und Frau Meyer fing an, das Übliche zu bereden. Doch sie wurde unterbrochen. Ein Junge steckte unerwartet seinen Kopf in die durch ihn gerade geöffnete Tür.

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⏰ Last updated: Jan 27, 2017 ⏰

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Nur Schall und RauchWhere stories live. Discover now