Zeitreisen

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„Eni, können die Menschen uns sehen?"

Verwirrt schaue ich meine kleine Schwester an. Ich war ganz in Gedanken versunken und es dauerte einen Moment bis ich begriff was sie mich gefragt hatte. „Nein, Schatz", sage ich lächelnd, während wir zusammen das geschäftige Treiben auf einer der vielen Straßen von New York des 19. Jahrhunderts betrachten „das hier ist nämlich schon vor sehr, sehr langer Zeit passiert, über 100 Jahren Die Menschen hier sind alle schon längst Tod." „Sie sind Tod!", ihre kleinen Augen werden ganz groß dabei. Innerlich würde ich mir jetzt am liebsten selbst eine Kopfnuss verpassen. Ich sollte wirklich besser aufpassen was ich in Gegenwart von kleinen Kindern von mir gab. „Die sind alle schon Tod", äffte ich mich selbst in meinem Kopf nach. „Weist du Ita, alle Menschen sterben irgendwann, das ist so wie mit Oma. Sie ist auch einfach friedlich eingeschlafen und genau so wird es auch diesen Menschen wenn sie alt sind sein.", versuche ich ihr zu erklären. Dass Viele wahrscheinlich an Cholera oder einer Blutvergiftung sterben werden, verschweige ich ihn dann doch besser. Ita verzieht ihr Gesicht als ob sie nicht genau wüsste was sie von so einer Aussage halten sollte, doch sie ist erst vier Jahre alt und lässt sich schnell von den schreibenden Marktverkäufern ablenken die ihre Waren mit lauter Stimme anpreisen. Erleichtert atme ich auf. Noch mal gut gegangen. Langsam schlendere ich meiner Schwester hinterher. Sie trägt ein schlichtes Kleid im Stil der 1880er Jahre, ähnlich dem Meinem und rennt damit wie ein junges Welpen von einem Stand zum nächsten. Der einzige Grund warum ich uns beide in so ein Gewand gesteckt hatte, sind nicht etwa die anderen Menschen, die können uns sowieso nicht sehen, dazu reicht meine Kraft nicht aus, sondern um nicht anderen Zeitreisenden aufzufallen. Nicht alle wollten dieser Epoche einfach nur einen Besuch abstatten und sind uns wohlgesonnen, sondern hatten dünklere Beweggründe. „Eni", ruft Ita. Sie zeigt auf einen Korb voll mit großen Orangen. „Kann ich eine haben?" Sie schiebt ihre Unterlippe etwas nach vorne und schaut mich aus ihren braunen Hundeaugen flehend an. Sie weiß genau wie sie mich herumkriegt. Doch ich muss sie trotzdem enttäuschen. „So stark bin ich leider nicht. Nicht mal Mama ist so gut in Zeitreisen, dass man bei ihr etwas essen kann. Nur wenn man mit einem Zeitreisenden der Akademie unterwegs ist, ist das möglich." „Aber ich hab Hunger!" Mit einem lauten Seufzer lasse ich die Luft aus meinen Lungen entweichen. „Ich hab auch Hunger. Wie gehen ja bald zurück." Da scheint sie etwas zu beruhigen. Ich richte mich wieder auf und genau in diesem Moment sehe ich ihn. Er ist vielleicht so alt wie meine Mutter, doch ich könnte mich auch irren, der Bart lässt ihn älter aussehen. Seine Kleidung ist die eines einfachen Bürgers, gepflegt aber nicht sonderlich nobel. Doch der Grund warum ich meine Augen nicht mehr von ihm nehmen kann ist ein ganz anderer. Denn er starrt zurück. Er sieht mich und das ist ein Ding der Unmöglichkeit, meine Kräfte sind gerade stark genug um mich und jemand zweiten in die Vergangenheit zu befördern. Doch ich bleibe dabei immer nur Zuseher, keiner sieht mich und ich kann nichts bewegen. Der einzige Grund warum er mich sehen kann wäre das er auch ein Zeitreisender ist. Und das bedeutet in den meisten Fällen nichts Gutes. Besonders da ich ihn nicht kenne. Endlich kann ich mich losreißen und Ita an der Hand packen. Sie fängt an zu jammern, dass sie den Kunststücken eins Gauklers noch länger ansehen wollte, doch ich ziehe sie unbeirrt hinter mir her. Das Zetern meiner Schwester, die Rufe der Verkäufer und das Hufgetrapple der vielen Pferde, alles vermischt sich einem Einheitsrauschen. Alles worauf ich mich jetzt noch konzentriere ist eine geschützte Stelle zu finden um zurück in die Gegenwart zu springen. Ich könnte uns zwar auch jetzt sofort zurück bringen, aber ich möchte nicht wirklich riskieren mitten vor einem Auto zu landen. Außerdem wäre es viel zu auffällig wenn Ita und ich einfach so auftauchen würden. Ich drehe mich immer wieder um und kontrolliere ob uns der Mann folgt. Es könnte natürlich auch sein das er gar nichts Böses im Schilde führt und nur aus Zufall hier ist, doch ich möchte es nicht drauf ankommen lassen. Besonders nicht wenn Ita dabei ist. Im Kopf gehe ich den Zeitreiseplan durch denn ich vorsorglich auswendig gelernt hatte bevor wir hier her gekommen waren. Ein Zeitreiseplan zeigt alle Stellen an von denen man in die verschiedenen Zeiten reisen kann und wieder zurück ohne dabei in einer Mauer oder mitten im Wohnzimmer einer überraschten Familie zu landen. Der nächste sichere Platz solle ganz in der Nähe sein. Nur noch einmal um die Ecke .... Ja, genau in nur 100 Meter Entfernung sehe ich wie die lange Häuserreihe von einer schmalen Seitenstraße unterbrochen wird. Kurz bevor wir hinter der Hausecke verschwinden schaue ich nochmal zurück. Noch immer nichts zu sehen, das ist gut. Die Straße die wir betraten war ruhiger, nahezu menschenleer. Hinter einer Mülltonne kam ich zu stehen. Schnell beugte ich mich zu Ita herab, die mich mit einer Mischung aus Angst und Verwirrtheit ansah, und umarmte sie fest. Die Welt um uns begann zu verschwinden, alles drehte sich. Für einen Moment fühlte es sich an als ob mein Körper nicht mehr existierte, doch nach fünf Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde alles wieder klar und wir standen wieder in der schmalen Seitenstraße doch diesmal über 200 Hundert Jahre später. Ich atmete erleichter auf, während mich meine Schwester ansieht als ob ich den Verstand verloren hatte. „War war das denn?", fragt sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, hatte sie doch gerade den gleichen Gesichtsausdruck wie Mama. „Nichts, mein Schatz. Mir ist nur grad eingefallen, dass Mama heute früher nach Hause kommt und wir möchte sie ja nicht warten lassen, oder?" Sie schaut mich weiterhin ungläubig an, bevor sie sich umdreht und in Richtung unserer Wohnung stapft. Dabei schimpft sie vor sich hin: „Warum darf Eni immer lügen, aber ich nicht!" Noch mal gut gegangen, denke ich mir. Ita braucht nicht zu wissen wen ich gesehen hatte, das würde sich so kurz nach dem was mit Papa passiert ist nur aufregen. Während ich ihr nachgehe versuche ich meinen Herzschlag wieder zu beruhigen und meine Gedanken zu ordnen. Doch alles was ich vor meinen Augen sehe ist der Mann war wie er gerade um die Ecke gerannt kam, kurz bevor wir zurück in die Gegenwart gezogen wurden, sein Gesicht verzerrt vor Wut.

Mama ist schon zu Hause, wir waren wohl doch länger weg als gedacht. Eigentlich hatte ich vorgehabt ihr nichts über unseren kleinen Ausflug zu erzählen, doch sobald ich die Haustür öffne, stürmt Ita an mir vorbei und ruft in ihrer hohen Kinderstimme: „Rate mal Mama wo wir heute waren?" Ich liebe meine Schwester, doch in diesem Moment würde ich ihr liebend gern ihren Mund mit extra starken Klebeband zukleben. Natürlich meint sie es nicht böse, doch ich hab ihr schon öfter erklärt, dass Mama nicht immer alles wissen muss, besonders unsere Zeitreisen. Doch vierjährige sind denkbar schlechte Geheimnishüter.

Ich steh noch immer zwischen Angel und Tür und überlege ob ich gleich wieder abhauen soll um der Standpauke meiner Mutter zu entgehen oder mich ihr zu stellen. Seufzend schließe ich nach kurzem Zögern die Haustür hinter mir und gehe, nach dem ich mir natürlich die Schuhe ausgezogen hab (sonst würde mich Mama sowieso gleich umbringen), in die Küche. Meine Mutter ist gerade am Kochen und rührt in verschiedenen Töpfen die auf dem Herd vor sich hin köcheln. Neben ihr steht Ita und erzählt ihr die ganze Zeitreiße. Ich hoffe sie erzählt nichts von unserer turbulenten Rückreiße. Denn seltsamen Mann hat sie zum Glück ja nicht gesehen.

Ich versuche mich ganz leise in die Küche zu schleichen und mich hinzusitzen ohne, dass sie mich bemerken um mir noch ein paar Sekunden zu verschaffen in denen ich mir ein paar gute Argumente für dem Streit der gleich kommen wird zu überlegen.


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