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5 | Klaviersonate Nr. 14

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»Das hier ist das Musikzimmer.« Adrian deutete auf einen Konzertflügel, der in der Mitte des Raumes thronte. Der rabenschwarze Lack glänzte schwach im trüben Sonnenlicht. »Durch diese Tür gelangt man in das Esszimmer«, erklärte er weiter und setzte seine Tour fort. Währenddessen hatte ich am Klavier Platz genommen und schlug ein paar weiße Tasten an. Eine einfache Melodie erklang. Überrascht wandte sich Adrian zu mir um.

»Du spielst Klavier?«

»Ein wenig.« Er setzte sich neben mich.

»Das wird meiner Schwester sicherlich gefallen.«

Ich musste lächeln. »Die wenigen Melodien, die ich kenne, sind langweilig.« Er widersprach mir.

»Noch lange nicht so langweilig, wie meine uralten Klaviersonaten.«

»Aber deine Stücke hören sich wenigstens gut an.«

»Dann gebe ich dir eben Klavierunterricht.« Ich legte meinen Kopf auf seine linke Schulter.

»Ich wäre eine schlechte Schülerin«, erklärte ich entmutigt.

»Wir haben alle Zeit der Welt.«

»Du vielleicht, weil du reich bist«, entgegnete ich frech. »Aber ich muss arbeiten.«

Adrian küsste sanft meine Stirn. »Ich werde dafür sorgen, dass du genug Freizeit hast«, versprach er mir flüsternd. Ich sah Adrian verloren in die eisblauen Augen. Zärtlich strich er mir eine kastanienbraunen Locke, die sich auf meine Wange verirrt hatte, hinters Ohr. Adrian schmiegte sich enger an mich. Seine eiskalte Haut prickelte leicht auf meiner. Ich spürte seinen Atem nahe an meinem Ohr.

»Ich habe zwei Karten für ein Theater heute Abend«, hauchte er. »Willst du mich begleiten?«

»Ja«, antwortete ich ebenso leise. Ich kicherte wie ein kleines Schulmädchen und löste meinen Kopf von seiner Schulter. »Wir sollten lieber weitergehen, wir haben erst fünf Zimmer geschafft.« Ich stand auf. Lässig lehnte ich mich gegen den Flügel und fuhr einen leichten Kratzer im Lack mit meinen Fingerkuppen nach. Adrian nickte zustimmend. Ich musterte ihn eingehend. »Wie wäre es, wenn du mir dein altes Zimmer zeigen würdest?«, schlug ich schließlich vor und ging vor zur Tür.

»Wenn du unbedingt willst«, stimmte er zu und führte mich den Gang entlang bis zur hintersten Tür. Adrian ließ mich in das halbleere Zimmer vorgehen.

Mein Blick schweifte umher und blieb auf einen Kamin, auf dessen Sims ein paar verblichene in Silberrahmen gefasste Bilder waren, stehen. Ein Foto fiel mir jedoch besonders ins Auge. Es zeigte einen neunzehnjährigen Jungen mit schulterlangen Haaren. Er trug altmodische Kleidung und einen Zylinder. In der einen Hand hielt er einen Spazierstock und die andere lag auf der Schulter eines etwa siebenjähriges Mädchens.

Es trug ein helles weites geblümtes Kleid und ein Häubchen. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich dem Foto immer näher gekommen war und schon streckte ich die Hand danach aus. Ich spürte die feinen Verschnörkelungen des Rahmens. Eingehend studierte ich die Kleidung bis ich auf die Gesichter genauer einging. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Die zwei Menschen darauf glichen Adrian und seiner Schwester stark, wahrscheinlich ihre Vorfahren. In der unteren rechten Ecke stand die Jahreszahl, aus der das Foto stammte: 1847. Ich hob meinen Kopf an und begann mich im Zimmer genauer umzusehen, das Foto noch immer fest umklammert.

Das große Himmelbett aus dunklem Holz war mit großen weißen Lacken abgedeckt. Die hohen Fenster, die in der Form denen in Kirchen stark ähnelten jedoch keine bunten Glasscheiben besaßen, ließen das wenige Tageslicht herein. Neugierig tigerte ich durch den Raum zu einem der zwei Fenster. Das Zimmer lag im zweiten Stock, von hier aus konnte man über eine kleine Grünfläche sehen, die an einen Wald aus Laubbäumen angrenzte. Ich ging wieder zurück zum Kamin, um das Bild wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückzustellen. Ich wandte mich zu Adrian um. Er war die ganze Zeit schweigend im Türrahmen gestanden. Auf seinen Lippen lag ein müdes Lächeln.

We kissed the London RainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt