35[Ende]

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Es war ein kühler Herbsttag, der durch den wehenden Wind noch verstärkt wurde.

Gelbe und rote Blätter fielen von den Bäumen und segelten in leichten Wellen auf den Boden.

Ein Mädchen stand an der Klippe und umklammerte fröstelnd ihren Körper.

Ihr Blick war auf den Abgrund gesenkt und rief tausende Erinnerungen in ihr hoch.

Genauso stand sie, als sie John das erste Mal traf.

"John."

leise flüsterte sie ihren Namen in der Hoffnung, er würde es hören und sofort kommen.

Sie wollte sich wenigstens noch verabschieden, bevor sie irgendwo nach England geschickt wurde.

Sie hatte dem nervigen Jungen, der jeden Tag an die Klippe kam, so viel zu verdanken.

Er war immer für sie da gewesen, egal wie gemein sie gewesen war.

Eine Weile stand sie wartend da, bis leise Schritte hinter ihr erklangen.

"Ivy."

Ihr Name klang so schön aus seinem Mund, so besonders.

"John."

"Ich werde übermorgen in ein Internat in England ziehen."

"Was?"

Verwirrt sah John sie an.

"Mein Vater hat mich an diesem Internat angemeldet, damit meine Noten wieder besser werden und damit er mich gar nicht mehr ertragen muss."

"Ist das dein Ernst?"

Panik lag in seinem Blick als er auf Ivys Rücken sah.

Er wollte und konnte sie nicht verlieren. Er liebte sie, auch wenn sie gestern davon gerannt war.

"Über so etwas mache ich keine Scherze, ich bin bloß hier um mich zu verabschieden. Ich sah es als angemessen, das zu tun."

Eine gewisse Kälte lag in ihrer Stimme als sie redete.

"Wann genau nochmal ?"

"In 3 Tagen."

Verwirrt zog John eine Augenbraue nach oben.

"Hast du nicht gesagt übermorgen?"

"Übermorgen oder in 3 Tagen, ist doch gleichgültig."

Sie machte eine Handbewegung, plötzlich so müde, als lohnte es sich nicht mehr davon zu sprechen, überhaupt irgendetwas zu sprechen.

Sie wollte sich von der Klippe wegdrehen und schmerzenden Herzens gehen, als sie ein kurzer Moment des Schwindels überkam und sie ausrutschte.

Ein Spitzer Aufschrei entfuhr ihrem Mund, als sie in die Tiefe stürzte und sich nur schwer an einem kleinem hervorstehenden Ast festhalten konnte.

Etwa einen halben Meter baumelte sie unter der Klippe, ein Moment der Schwäche und sie würde fallen.

"John, hilf mir. Bitte."

Ängstlich warf sie einen Blick nach unten in den Abgrund.

Sie hatte Angst zu fallen, in den Tod zu stürzen.

Ihre Gefühle hatten sich geändert, sie hatte sich geändert. Es war ihr nicht mehr egal ob sie lebte oder nicht. Sie wollte leben.

Und all das nur durch den Jungen der oben an der Klippe kniete und panisch seine Hand nach ihr ausstreckte.

"Nimm meine Hand,Ivy."

"Ich kann nicht John, ich kann den Ast nicht los lassen, dann falle ich."

Panik machte sich in ihrem Körper breit und lähmte sie. Sie wusste nicht was sie tun sollte, alles was ihr durch den Kopf ging, war die Angst vor dem Fallen.

"Okay, schließ deine Augen. Atme tief durch und dann streck deine Hand nach oben aus. Vertrau mir Ivy. Ich zieh dich hoch."

"Ich kann nicht John, ich kann einfach nicht. Ich hab Angst zu fallen. Es ist mir nicht mehr egal, okay, hörst du, es ist mir nicht mehr egal."

Wie wild schüttelte sie ihren Kopf hin und her, sodass ihre Straßenköterblonden Haare durch die Luft wehten.

"Ich weiß Ivy, das weiß ich doch schon längst."

Er machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach.

"Also schließ jetzt deine Augen und vertrau mir."

Beruhigend sah er sie an und deutete auf seine Hand, die sich nach ihr ausstreckte.

"Jetzt bist du dran Ivy."

Zaghaft nickte sie und schloss ihrer Augen.

Ganz langsam löste sie ihre Hand von dem Ast, um sie danach, so schnell wie möglich, nach oben zu strecken.

Seine Hand umschloss ihre und schenkte ihr Halt.

"Jetzt lass noch mit der anderen los und ich zieh dich hoch. Ich lass dich nicht fallen, Ivy."

"Versprochen?"

"Ja."

Mit diesen Worten löste sie auch die zweite Hand und ließ sich von ihm nach oben ziehen.

Tränen rannen ihr Gesicht hinunter, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

John schloss sanft seine Arme um sie und strich ihr beruhigend über den Rücken.

"Es ist mir nicht egal gewesen, John. Es war mir nicht egal. Genauso wenig wie du mir egal bist. Ich will nicht nach England. Ich will hier bleiben, bei dir."

"Das kannst du, versprochen. Du bleibst hier bei mir, und ich werde dir nie wieder von der Seite weichen."

"So dumm es auch klingt, John, ich liebe dich. Und ich war ein Idiot, dass ich gestern davon gerannt bin. Aber ich war einfach mit der Situation überfordert."

"Ich weiß Ivy, ich weiß."

Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, während er sie fest im Arm hielt.

Sie liebte ihn, und er liebte sie. Es würde alles gut werden, dafür würde er sorgen.

"Können wir gehen, John?"

"Ja."

Alles was du willst, dachte er, bevor sie der Klippe den Rücken zukehrten.

StraßenköterblondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt