Kapitel 1

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Das Handy rutscht Mila aus den zitternden Fingern. Ihr Gesicht verliert an Farbe. Hilflos sackt sie in sich zusammen. Sie versucht, zu schreien, doch kein Wort kommt über ihre Lippen. Ihre Kehle ist trocken und sie vermag kaum zu schlucken. Auch das Atmen fällt ihr schwer. Es ist fast so, als wäre ihr gesamter Körper in eine Schockstarre gefallen. Nur am Rande nimmt sie wahr, wie Jonathan auf sie zustürzt und sie gerade noch auffangen kann, bevor sie am Boden aufschlägt.

Sie kann ... nein, sie will nicht begreifen, was sie soeben erfahren hat. Ihre Eltern sind tot, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Tausende Kilometer entfernt, in einem fremden Land. Nie wieder wird sie in Moms lachendes Gesicht sehen oder Dads angenehm sonore Stimme hören. Sie wird sich nicht einmal von ihnen verabschieden können, denn ihre Leichen werden schon übermorgen in Deutschland verbrannt.

Dabei hat sie doch erst vor ein paar Stunden mit den beiden telefoniert. Mom war richtig aufgeregt gewesen, weil sie ihren ›Kleinen‹, wie sie Ryan immer noch nennt ... genannt hat, endlich wiedersehen durfte.

Ihr Bruder war vor etwa drei Monaten mit zwei Pferden nach Europa gereist, um dort an einem Trainingscamp für talentierte Jungreiter teilzunehmen. Mehr als ein halbes Jahr hatte er dem Termin entgegengefiebert. Den Aufenthalt hatten ihm Mom und Dad zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Zwölf Wochen Deutschland, die gesamten Sommerferien lang. Ihre Eltern wollten ihn nun abholen. Erst gestern Morgen waren sie deshalb über den großen Teich geflogen und jetzt sollten sie nie wieder heimkommen.

Mila hört das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie ist einer Ohnmacht nahe und eine unbeschreibliche Übelkeit steigt in ihr auf. Unfähig einen Ton hervorzubringen, liegt sie regungslos in den Armen ihres Arbeitskollegen.

»Mila? Was ist los? Wer war das am Telefon?« Jonathans Stimme zittert. Obwohl sie sich erst seit Kurzem kennen, da Mila noch nicht lange im Manatee Rescue Resort arbeitet, verstehen sie sich gut. Jonathan ist meist bester Laune und bringt sie mit seinen Späßen zum Lachen. Mit den dunklen Haaren und den tiefgründigen Augen, in denen oft der Schalk blitzt, sieht er außerdem verdammt gut aus. Wenn Mila ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie ein wenig in ihn verliebt ist.

Er schüttelt sie sanft, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Allmählich gelingt es ihr, wieder zu atmen und sie erwacht aus ihrer Starre. Sie blickt in sein schreckerfülltes Gesicht. Nach wie vor geben ihre Augen die Tränen, die sie so gerne weinen würde, nicht frei. Plötzlich kann sie Jonathans Nähe nicht mehr ertragen und windet sich aus seiner Umarmung. Es überkommt sie das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Sie muss auf der Stelle nach Fort Myers zurückkehren, um sich um das Hotel ihrer Eltern zu kümmern. Mein Gott, wie soll das jetzt weitergehen? Sie hat doch gar keine Ahnung, wie man ein Hotel führt. Ihre Eltern hatten sie immer darin bestärkt, ihren Wunschberuf ›Biologin‹ zu ergreifen und darauf gehofft, dass Ryan in Dads Fußstapfen treten würde. Er sollte einmal alles erben, aber im Moment liegt die Verantwortung bei ihr.

»Meine Eltern sind tot. Ich muss nach Hause«, eröffnet sie ihm mit tonloser Stimme.

»Was ist passiert, Mila?« Jonathan drückt sie sichtlich schockiert an seine Brust und ignoriert ihre Gegenwehr.

»Ich weiß es nicht genau. Mein Bruder hat nur gesagt, dass sie einen Autounfall hatten.« Sie beginnt zu schluchzen. Endlich brechen ihre Tränen hervor. Heiß rinnen sie unaufhaltsam über ihre Wangen, benetzen Jonathans T-Shirt, doch das kümmert ihn wenig. Er hält sie weiterhin fest im Arm und streicht ihr beruhigend über das schwarze, kurz geschnittene Haar.

Mila fühlt Panik in sich aufsteigen. Sie fragt sich, wie sie die Aufgaben, die nun auf sie zukommen werden, bewältigen soll. Ihr bislang wohlbehütetes Leben ist mit einem Mal vorbei. Erst vor einigen Wochen hat sie ihr Elternhaus verlassen. Nun steht sie mit ihren zwanzig Jahren plötzlich ganz alleine da und soll sich um ein Hotel kümmern und für ihren jüngeren Bruder sorgen.

Ihr Bruder! Ryan. Wie schrecklich muss es ihm gehen. Er war dabei, als der Unfall geschah. Machtlos hatte er seinen Eltern beim Sterben zugesehen. Wird er das Erlebte verkraften? Wie schafft man es, über so ein Ereignis überhaupt hinwegzukommen?


Mila schließt resigniert die Augen. Egal was kommt, sie wird zurechtkommen müssen. Ryan zuliebe wird sie ihren Traumjob an den Nagel hängen und ins Blackstone Hotel zurückkehren. Er soll unter keinen Umständen auch noch sein Zuhause verlieren. Sie würde für ihn da sein, ihm eine gute Ausbildung ermöglichen und ihre eigenen Interessen zurückstellen, bis er erwachsen ist und auf eigenen Beinen stehen kann. Familie ist das Allerwichtigste, das betonten Mom und Dad immer wieder, und sie hatten recht. Ihr Bruder und sie müssen nun zusammenhalten, dann können sie alle Hürden bewältigen, die sich ihnen in den Weg stellen werden.

Blackstorm - Schwere ZeitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt