Ein paar Minuten danach klingelt das Telefon. Da ich mich auf einer freien, geraden Landstraße befinde, riskiere ich einen Blick. Unbekannte Nummer. Ich nehme ab. "Collin hier, mit wem spreche ich?"
Als die ersten Worte durch den Hörer dringen setzt sich ein langer, genervter Ausdruck auf mein Gesicht. Es ist Miss Wulbert. Diese Frau kann mich einfach nicht in Ruhe lassen. Sie gönnt mir nicht die kleinste Pause und denkt immer nur an ihren grandiosen Museumsfund, und den damit verbundenen Ruhm und Erfolg. Genervt antworte ich: "Was ist denn jetzt noch so wichtig, dass Sie mich nach Feierabend stören müssen?" Ihre vorherige Nervosität und das hektische Gerede verflüchtigt sich plötzlich, bis sie kurz ganz verstummt und nur noch die Worte: "Vielleicht sollten Sie sich das hier lieber selbst ansehen." ertönen. Danach legt sie auf. Verwirrt nehme ich das Handy vom Ohr und starre es an. Dann sehe ich erschrocken zurück auf die Straße und bremse schlagartig, beinahe wäre ich im Graben gelandet. Zum Glück ist diese Straße eher wenig befahren, ein Unfall hätte mir gerade noch gefehlt. Ich überlege kurz ob es wirklich nötig ist, umzudrehen, nur weil vielleicht meine egoistische Assistentin einen Zahn gefunden hat. 5 Minuten später bin ich allerdings bereits auf dem Rückweg.
Erst das harte Geräusch der zuknallenden PKW-Tür meines Geländewagens macht das Archäologenteam auf mich aufmerksam. Dafür rast Miss Wulbert nun extra schnell auf ihren Vorgesetzten zu, und schreit ihn fanatisch, und doch sehr beängstigend an: "Mister Collin! Mister Collin, kommen Sie schnell! Wir haben da etwas ganz sonderbares entdeckt." Und damit zerrt sie mich schon davon, zum Waldrand. Fassungslos und etwas verwirrt lasse ich mich hinter ihr her schleifen. Ein Wunder, dass sie unterwegs nicht 5 mal gestolpert ist. Völlig außer Atem bleibt die junge Archäologin knapp innerhalb des großen Forstgebietes stehen, und ich stürze fast zu Boden. Als ich mich wieder gesammelt habe, frage ich ein wenig entnervt, was zum Henker sie mir nun zeigen wolle, Wulbert jedoch starrt nur auf den Boden ein Stück weit vor sich. Einer der anderen Arbeiter sagt dann fast tonlos: "Sehen sie nur." Dann endlich fällt mir in den Blick, was hier alle in Schrecken und staunen versetzt. Zu unseren Füßen liegt eine rötliche, dampfende und, wie ich schließlich bemerke, eine fürchterlich stinkende Schleimspur. Aber auch die anderen Archäologen halten sich erst jetzt die Nase zu, als wäre dieser Gestank ein ganz plötzlicher Impuls. Angewiedert weichen wir zurück und starren eine Weile auf die grauenhafte Spur. Doch dann zerfällt sie auf einmal einfach zu Staub. Promt verschwindet auch der Gestank, und letzte Dampfwolken steigen in den Himmel. Kurz danach taucht ein kleiner Windstoß auf, welcher alle Reste davon trägt.
"Was meinen Sie, ..." beginnt Miss Wulbert, "... was das war?" beendet Kurt, einer der hinten stehenden Archäologen. Soviel ich weiß, ist er wohl der Partner der jungen Forscherin. Ich antworte nicht und eine Zeit lang herrscht beängstigende Stille, die nur durch den langsam stärker werdenden Wind gestört wird. Schließlich entrinnt meinen Lippen doch ein Satz: "Wann haben Sie diese Spur entdeckt?" Wie aus der Pistole geschossen liefert mir meine schockierte Assistentin die Antwort: "Vor kaum einer Viertelstunde, kurz bevor ich anrief." Mir entweicht ein willkürliches "Hmm", gefolgt von der Anweisung, restspuren der Substanz ans Labor zu schicken und für heute ersteinmal Schluss zu machen. Dabei bleiben meine Augen an die Stelle auf dem Waldboden gefesselt, an dem vor wenigen Augenblicken noch dieser sonderbare Schleim lag. Erst als die Arbeiter abrücken kann ich meinen Blick lösen. Ich stehe auf und schaue aufmerksam durch den Wald, auf der Suche nach einem Tier, oder vielleicht besser gesagt einer Kreatur, von der die Rückstände stammen könnten. Nach einigen Sekunden taucht tatsächlich etwas aus dem Gebüsch hervor, allerdings nichts unnatürliches. Nun ... Zumindest auf den ersten Blick nicht. Als ich meine Brille hervorziehe, die ich mir angesichts der seltsamen Geschehnisse aus der Vergangenheit angeschafft habe, bemerke ich, dass das zunächst völlig uninteressante Reh, das dort angehumpelt kommt, einige große Verätzungen auf dem Fell trägt. Schnell renne ich zu dem Tier, nähere mich ihm dann jedoch langsamer, als es leicht zurückweicht und pfeife Wulbert herbei. Im Nachhinein kommt mir in den Sinn, dass ich das vielleicht hätte lassen sollen.
Sie stürzt in kurzerhand zurück in den Wald, auf halber Strecke ruft sie den anderen Arbeitern vor dem Wald zu, sie sollen Verbandsmaterial herschaffen. Dann stolpert sie jedoch tolpatschig über eine aus dem Waldboden herausragende Baumwurzel, sürtzt auf mich, und verscheucht so das angeschlagene Tier, welches sich zu meinem Erstaunen trotz seiner schweren Verletzungen immer noch sehr schnell bewegen kann. Einen Augenblick später ist es im Dickicht verschwunden. Polternd rapple ich mich auf und klopfe mir den Dreck von den Kleidern. "Verdammt nochmal Wulbert! Können sie denn nicht aufpassen? Mit ihrer Tolpatschigkeit haben sie das Reh verjagt. Wer weiß, wo es jetzt elendlich den Tod finden wird. Haben sie diese Verätzungen gesehen?" Hastig antwortet die junge Frau: "Es tut mir so leid Mr Collin! Haben sie sich was getan?" "Ach was schert mich das, dieses Tier ist im Moment viel wichtiger! Wir müssen es finden!" Das Gespräch unterbricht sich und ich wende mich den Tiefen des Waldes zu, halte nach Spuren ausschau, höre auf Geräusche des Rehs - nichts. Absolut nichts ist zu hören, so auch nichts von Miss Wulbert. Als ich mich nach ihr umdrehe stößt mir ein verwirrter Blick entgegen. "Was haben sie denn?" "Von was für einem Tier sprechen sie da?" erwidert sie mir. "Haben sie denn das Reh nicht gesehen?" "Ein Reh? War es das, weswegen sie so in den Wald gestarrt haben?" In ihrer Stimme liegt eine gewisse Verwirrung und Unsicherheit, als hätte sie einen Geist gesehen. "Das arme Tier stand doch schon fast vor mir, sie müssen es gesehen haben, vor allem wegen seiner Verätzungen!" "Verätzungen? Hier im Wald? Wie sollte das denn passieren?" "Vielleicht durch diesen sonderbaren Schleim der hier vorher lag." Der jungen Forscherin setzen sich nun zahlreiche tiefe Falten auf die Stirn. "Nun, von einer Schleimspur hätte ich doch sicherlich etwas mitbekommen..." Mancheiner würde jetzt denken, er sei verrückt, oder würde denken, dass man Scherze mit ihm treibe, allerdings weiß ich sehr genau warum meine Assistentin weder das Reh noch den Schleim in Erinnerung hat. Enttäuscht darüber, dass ich nach der längeren Ruhephase doch noch eine weitere verwirrende Vision erlebt habe, blicke ich Miss Wulbert ins Gesicht. Dort ist große Verwirrung zu erkennen, auch zeigt sich ihre Hilflosigkeit mir gegenüber. Sicherlich fragt sie sich, was sie nun tun soll, oder wie sie einem offenbar verrückten alten Mann helfen kann. Dabei bin ich kaum 10 Jahre älter als sie, wenngleich ich mich seit den ersten Visionen schon sehr viel älter fühle. "Soll ich vielleicht einen Arzt rufen? Haben sie sich doch den Kopf verletzt?" fragt sie vorsichtig. "Nein nein, alles in Ordnung. Packen sie jetzt ihre Fundstücke zusammen und fahren sie nach Hause. Es war ein anstrengender Tag." Sie nickt. Dann geht sie langsam ein paar Schritte rückwärts, bevor sie sich umdreht und verunsichert zur Ausgrabungsstätte zurückgeht. Einen Moment noch verweile ich in meiner Position auf der kleinen Waldlichtung. Als ich nun jedoch in meine Tasche greife ertaste ich etwas seltsames. Hervor kommt eine kleine Glasflasche mit einer Art Asche darin. Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter. Diese Asche habe ich doch in dieser Vison von der Schleimspur kurz nach ihrem Zerfall eingesammelt? Hat das zu bedeuten, dass es keine Einbildung war? Nur warum konnte sich Miss Wulbert an nichts erinnern? Stecke ich jetzt in diesem Moment ebenfalls in einer Vision? Erlebe ich sie nun zum ersten Mal bewusst ? ...
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Ruins
Teen FictionDer 29-jährige Londoner Caycou ist leidenschaftlicher "spiritueller Archäologe", wie er sich selbst nennt. Er sucht nach fast mystischen Geheimnissen in alten Ruinen. Dass er dies nicht zufällig tut ist ihm kaum bewusst, oder er verdrängt es bzw. er...