Kapitel 1: Belüge niemals Dr. Gregor Kronberg

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„Wer von uns allen geliebt werden will, ist nur auf der Suche nach sich selbst." - Neuert und Kupke



1. Belüge niemals Dr. Gregor Kronberg

Ein Krankenhaus war immer in Bewegung. Es wurde assoziiert mit viel Hektik, nervös machenden Apparaturen, kranken Menschen und natürlich langen Wartezeiten. So zumindest aus den Augen der Patienten. Doch wie ist die Arbeit im Krankenhaus gewesen? Womit assoziierten Ärzte ihren Arbeitsplatz? Die Antwort lag auf der Hand; panische Menschen, panische Menschen, die übertrieben, panische Menschen, die übertrieben und kein Deutsch sprachen und natürlich panische Menschen, die total übertrieben, kein Deutsch sprachen und der Überzeugung gewesen sind alles besser zu wissen. Ach, natürlich gab es auch noch die undankbaren Patienten! Man half ihnen und brachte sie auf die Beine und statt einem schlichten Dankeschön wurde sich dann darüber beschwert, dass die Schnalle viel zu eng gewesen ist beim Blut Abnehmen oder dass man ja hätte sterben können in der halben Stunde, die man warten musste (mit einem geprellten Bein). Selbstverständlich gab es auch schöne Momente. Gerade für Anfänger war es das schönste Gefühl einen Patienten tatsächlich wieder gesund zu pflegen und ein aufrichtiges Lächeln zu bekommen. Doch irgendwann wurde man einfach zu kalt für solche Dinge.
So beispielsweise der 36-jährige Dr. Gregor Kronberg. Der von Natur aus sehr distanzierte Mann ist wirklich taub für diese kleinen Erfolge geworden. Für ihn war das ganze Leben nur noch eine einzige Routine. Seit seiner Scheidung vor drei Jahren ist er metaphorisch gesehen immer nur im Kreis gelaufen. Er steht morgens auf, macht sich fertig zur Arbeit, hilft im Krankenhaus undankbaren Menschen und hilflosen Anfängern, verbringt seine Pause mit einem Kaffee im Aufenthaltsraum und geht Patientenakten durch und am Abend geht er nach Hause. Wenn man ihn fragen würde, was er dann tut, so wüsste er selbst nicht einmal die Antwort. Er schmeißt sich auf sein Sofa im Wohnzimmer, legt den Arm auf die Augen und irgendwann geht er schlafen. Pathetisch würde das so manch einer nennen. Doch Dr. Kronberg hatte keine Zeit sich um solche Nichtigkeiten Gedanken zu machen.

Mit einem nichts sagenden Blick verließ er das Zimmer E-03. Der Mann, der noch immer dort drin saß hatte sich das Bein gebrochen. Ein Arbeitsunfall. Gregor verwarf den Gedanken an ihn schnell. Er war mit der Untersuchung fertig, und wenn er sich nicht allzu dumm anstellte, würde er ihn auch nicht mehr wieder sehen. Im sterilen, weiß gestrichenen Flur, kam dem großen Arzt eine Krankenschwester entgegen gerannt. Sie hielt eine Akte in der Hand, blieb direkt vor ihm stehen und holte gerade Luft um etwas zu sagen. Allerdings ließ Gregor sie nicht. Kommentarlos entnahm er ihr ihre Mappe und drückte ihr seine eigene in die Hand. „Zimmer?", fragte er fast schon teilnahmslos nach. Die kleine mollige Frau blinzelte etwas verdattert. Sie war noch nicht lange hier eingestellt und hatte das Vergnügen mit ihm anscheinend noch nicht gehabt. Doch Kronberg war sich ziemlich sicher, dass sie vor ihm gewarnt wurde. „E-07." Der Brünette nickte, machte auf dem Absatz kehrt und schlug die Krankenakte auf. 'Daria Orlova' las er als erstes. Seine Laune sank in den Keller. Sicherlich wieder eine total aufgebrachte russische Mutter, die nach jedem Wort überlegen musste wie das nächste heißen könnte, sich mit ausländischen Medikamenten ernährt hat und jetzt der festen Überzeugung war, dass sie von allen benachteiligt wurde. Alles andere interessierte ihn nicht sonderlich und er sprang direkt zum Aufnahmebericht. Umgekippt bei der Arbeit. Das Bild der aufgebrachten russischen Mutter wandelte sich zu einer theatralischen aufgetakelten Modepuppe, dessen strikter Diätplan Essen nicht vorsah, sondern lediglich als Alternative diese abartigen Diätdrinks anpries. Er seufzte leise, ehe er den Untersuchungsraum betrat.
E-07 war genau wie jedes andere Behandlungszimmer eingerichtet. Am Fenster stand ein Tisch mit allen möglichen Utensilien und Stiften darauf, gegenüber war ein großes Waschbecken angebracht mit kleinen Schränken darüber, in denen sich Handtücher, Verbände und was man nicht alles so brauchte befanden. In der Mitte stand die Liege, die zu diesem Zeitpunkt noch von einem Vorhang verdeckt wurde. Kronberg beeilte sich nicht. Wahrscheinlich lag Orlova eh noch mit einem ordentlichen Schwindelgefühl da und hatte ihn nicht einmal wahrgenommen. Das passierte relativ häufig bei Schwächeanfall-Patienten. Er warf ihre Akte auf den Tisch und umfasste den Vorhang. „Guten Morgen, Frau...-" Und hier geschah etwas, was in drei Jahren nicht mehr vorgekommen ist; Dr. Gregor Kronberg war überrascht. Vor ihm lag keine hysterische Mutter und auch keine dramatische Diva. Nein, vor ihm saß tatsächlich eine schlichte Blondine und ließ die Beine baumeln. Im Bericht stand, dass sie fast zwanzig Minuten lang nicht ansprechbar gewesen ist. Und jetzt saß sie da einfach so herum und lächelte als wäre nichts gewesen. „Orlova."
Der Brünette blinzelte verwirrt. „Wie bitte?" - „Mein Name!" Gregor hatte das Bedürfnis sich vor die Stirn zu schlagen. Jetzt hatte sie ihn tatsächlich aus der Fassung gebracht. „Richtig, verzeihen Sie Frau Orlova. Ich bin Dr. Kronberg." Den Akzent hörte er heraus, doch sie schien recht selbstbewusst zu sein. Er umfasste ihre zierliche Hand zum Gruß. Anschließend schob er seinen Hocker an die Liege und nahm Platz. „Wie geht es Ihnen, Frau Orlova?" Die Blondine schenkte ihm wieder ein unbekümmertes Lächeln. „Gut, vielen Dank der Nachfrage und Ihnen?"

... Was? Schon wieder brachte sie ihn durcheinander. Wer fragte einen Arzt denn nach dessen Wohlbefinden? Diese Frau war ihm wirklich suspekt. Als Antwort nickte er lediglich distanziert. „Nun, was genau ist denn passiert?" Die junge Frau legte ihre Hände in den Schoß und wurde ein wenig nachdenklich. „Ich weiß nicht, vielleicht habe ich zu wenig geschlafen!" - „Danach habe ich nicht gefragt", stellte der Brünette direkt unterkühlt klar. Irgendwie mochte er sie nicht. Er drehte sich herum und schnappte sich die Akte. „Sie sind heute bei der Arbeit umgekippt und eine anerkennende Zeit lang bewusstlos gewesen. Wieso das passiert ist, werde ich heraus finden. Und sie sagen mir jetzt wie genau es vonstatten ging." Er schüchterte seine Patientin ein, das tat er eigentlich bei den meisten. Allerdings war das tatsächlich am effektivsten. Doch diese Frau lächelte noch immer und räusperte leicht. „Nun, ich bin heute morgen aufgestanden...-" „Wann?" „Um sechs Uhr." „Wann sind Sie schlafen gegangen?" „Kurz vor Mitternacht." „Was haben Sie anschließend gemacht?" „Geduscht." Dr. Kronberg notierte sich die von ihr gelieferten Informationen und wartete darauf, dass sie weiter sprach. Doch das tat sie nicht. Mit hochgezogener Augenbraue blickte er wieder zu ihr rauf um sie mit erwartungsvollen Augen und kerzengerader Haltung anzutreffen. Anscheinend war sie jetzt eingestimmt auf diese militärische Frage – Antwort Geschichte. Der Brillenträger musste sich ein schwaches Schmunzeln verkneifen. Das war wirklich eine eigenartige Situation.
„Was als Nächstes?" Diese Antwort ließ etwas auf sich warten. „Dann... habe ich gefrühstückt." Abwartend blickte Kronberg sie an. Ihre scheuen Augen hielten dem sogar Stand! Dennoch konnte er geradewegs durch sie hindurch sehen. „Lügend Sie mich an, Frau Orlova?" Entsetzt schüttelte die Russin den Kopf. „Nein, aber nicht doch." Wieder zog er die Augenbraue hoch. Schließlich senkte die Frau mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern. „Ich hatte einen Kaffee zum Frühstück." Wie er es sich gedacht hatte. „Warum?" „Ich hatte keine Zeit richtig zu frühstücken." „Nur heute nicht?" Nun kratzte sie sich verlegen am Nacken. Mit einem Nicken notierte er alles. „Sind bei Ihnen schon vorher Beschwerden aufgetreten?" Daria schüttelte den Kopf. „Und wie sieht es im Moment aus?" „Mir geht es wirklich wieder gut!" Die Augen des Arztes wanderten zu ihren Armen, die von den dreiviertel Ärmeln ihrer Bluse nicht ganz verdeckt wurden. Eine feine Gänsehaut war auf ihnen zu erkennen und auch die Hände, die sie versuchte in ihrem Schoß unauffällig zu verstecken zitterten. Abgesehen davon war ihre Reaktionszeit nicht die Beste. Ihre Augen brauchten etwas zu lange um einen anderen Punkt zu fixieren. Warum log sie ihn an? Damit verschwendete sie ihre Zeit und was noch viel schlimmer war: seine mit dazu! „Gut, Frau Orlova." Er rollte herüber zum Schreibtisch und schnappte sich das Fiebermessgerät. „Ich werde jetzt erst einmal Ihre Temperatur messen. Ich bin ehrlich zu Ihnen; ich glaube Ihnen kein Wort und Sie sollten es sich dringend abgewöhnen Ihrem Arzt etwas vormachen zu wollen. Vor allem mir. Das mag ich nämlich gar nicht." Für einen kurzen Moment schien die Fassade zu bröckeln und ein leicht ängstlicher Ausdruck machte sich in ihrem Gesicht breit, verschwand aber schnell wieder. „Nur zu und versichern Sie sich selbst..." Nun klang sie überhaupt nicht mehr so selbstbewusst. Sie ging zu spät schlafen, war blass, frühstückte nicht vernünftig (und wer weiß ob sie danach richtig aß), sie fröstelte eindeutig – Kronberg tippte auf Stress und Überlastung. Mit einem Piepen hatte das Thermometer die Temperatur erfasst. Allerdings vereisten dem Brünetten komplett die Gesichtszüge, als er das Resultat betrachtete. Anscheinend hatte er einen Volltreffer gelandet. Aber was für einen! „Frau Orlova", setzte er mit mahnender Stimme an. „Sie sitzen mit 39,8 Grad Fieber vor mir und erzählen mir es ginge Ihnen gut?" Die Frau fokussierte beschämt einen Punkt auf dem Boden und räusperte sich leicht. Doch sagen konnte sie in dieser Situation nichts mehr.  

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 19, 2017 ⏰

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