Der zweite Tag

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Tag Nummer 2 oder auch wie man geheime Botschaften verschickt ohne für einen Drogendealer gehalten zu werden

Jim,

ich glaube ich kenne das Mädchen von dem du geschrieben hast. Ist es die, die mehr Sommersprossen im Gesicht hat, als Sterne am Himmel sind?

Ich glaube sie weiß nicht so recht, wie sie auf deinen Brief reagieren soll. Sie kennt dich ja eigentlich gar nicht.

Ich kenne dich auch nicht. Das Einzige, das ich von dir weiß ist, dass du nicht hören kannst. Ich kann das nicht beurteilen, aber ich könnte mir vorstellen, dass du genau deswegen ein besserer Zuhörer bist als andere, weil dir dadurch vielleicht Sachen auffallen, die anderen verborgen bleiben. So wie die Farbe meiner Haare.

Für andere sind sie nur rot für dich sind sie Flammen. (das klingt aber schon ein wenig cheesy, findest du nicht?)

Wenn ich mich recht erinnere wolltest du mich kennen lernen. Ich fange mal mit den Standardfakten an.

Ich heiße April und bin mit diesem Namen ein bisschen gestraft. Ich habe zwei kleine Monsterbrüder, die mir das Leben regelmäßig zur Hölle machen. Sonst fällt mir im Moment leider nichts Anderes über mich ein.

Danke für deinen Brief, auch wenn ich ihn noch nicht so ganz verstehe.

April.

Mit schwitzigen Händen stand ich am nächsten Morgen an der Bushaltestelle. Ich war nervös und rechtzeitig. Gruselig.

Es nieselte und der feine Film aus Regen, der sich auf mein Gesicht legte, fühlte sich eigenartig an. Alles war ein bisschen eigenartig heute.

Es war einer dieser Tage, an denen man sich einfach nicht gut fühlt. Alles sieht doof an einem aus und man ist die ganze Zeit auf der Suche nach irgendetwas, ohne zu wissen nach was genau. Ich fühlte mich ein bisschen bodenlos.

Mein Vater hatte mir Frühstück ans Bett gebracht und ich hatte ihn noch nie mehr geliebt und das obwohl er den Stapel mit dem „Vermächtnis der Drachenreiter", von dem ich gestern mein bunt zusammengewürfeltes Outfit herunter gefischt hatte, auf seinem Weg durch mein zugestelltes Zimmer umgeworfen hatte.

Ich hatte mich sogar dazu aufraffen können mit dem Frühstück in die Küche zu tapsen und dort Löcher in die türkise, viel zu fröhliche Wand zu starren und das Basilikum zu bemitleiden, das schlapp in seinem Topf hing. Ich fühlte mich auf einer tieferen Ebene sehr verbunden mit ihm. Die anderen Kräuter hingegen konnten mir gut gestohlen bleiben.

Ich fühlte mich heute wie Basilikum und mein Outfit war blöd, obwohl ich mein Lieblingskleid trug.

Auf dem Weg zum Bushaltestellenhäuschen zählte ich die leeren Dosen, die am Wegrand lagen und nahm den Umweg durch den Park und an der Bibliothek vorbei, um zumindest ein bisschen was Schönes und nicht nur Graffitibeschmierte Wände zu sehen.

Ich hatte mir fest vorgenommen ihm den Brief noch vor der Schule zu geben.

Warum konnte ich mir selber nicht erklären. Mich hatte sein Brief fasziniert. Besonders die geschwungene, ausschweifende Schrift, die so gar nicht zum heutigen Zeitalter passen wollte. Auch die Tatsache, dass er mit Füller geschrieben hatte fand ich überraschend. Seine Schrift war genauso schön wie er und genauso geheimnisvoll.

Ich kaute an den Fingernägeln meiner rechten Hand. Eine ganz scheußliche Angewohnheit aus Kindertagen. Ich würde wahrscheinlich einfach nie so schöne und gepflegte Hände haben, wie diese perfekten Mädchen, mit dem perfekten sozial engagierten Leben und hübschen Haaren und manikürten Fingernägeln und einer Schrift, die aussah wie gedruckt, weil jeder Buchstabe immer gleich war.

12 Tage AprilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt