E I N S

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Es war absolut dumm von mir gewesen, zu glauben, ich könnte diese Wette gegen meinen Bruder gewinnen. Hatte ich zum Zeitpunkt meiner Einwilligung ernsthaft gedacht, ich könnte es schaffen, auch nur einmal pünktlich hier zu erscheinen? Absolute Fehleinschätzung meinerseits, denn tief im Inneren hatte ich noch nicht einmal selber daran geglaubt. Wie gesagt, absolut blöd! Der Blick auf meine Uhr hatte mir bereits auf dem Weg hierher bestätigt, dass der Minutenzeiger sich schon längst von der Zwölf verabschiedet hatte. Gut, dass ich somit direkt vorsorgen konnte und mir meinen Wetteinsatz besorgt hatte. Was natürlich auch nochmal extra Zeit beansprucht hatte. Einen extra großen Kaffee Americano, den meine rechte Hand gerade so umfasst bekam und dessen Becher verdammt heiß war, weswegen ich jetzt auch wie eine Irre über die Straße hechtete und die Stufen zum Eingang ungewöhnlich schnell hinaufsprang.

Mit meinem gesamten Körpergewicht drückte ich die schwere Glastür über ihre Schwelle und betrat den riesigen, sterilen Eingangsbereich des Hochhauses. Sofort erreichte meine Wangen eine kühle Prise der Klimaanlage, eine Wohltat zu den gegensätzlichen Temperaturen, die draußen herrschten. Meine ausgelatschten rosa Vans quietschten bei jedem Kontakt mit dem frisch gewienerten Marmorboden und das Geräusch hallte in allen Ecken wieder. Wie immer war die Halle bis auf Empfangsdame Ashley leer und ein milder Zitronengeruch lag in der kühlen Luft. Mit einem erleichterten Seufzen stellte ich das dampfende Gebräu auf der Theke vor mir ab und schob es weit weg von mir in ihre Richtung. Kaffee gemischt mit Zitrone lehnte mein Magen strikt ab, also schnell weg mit den zermahlenen Bohnen. Ley legte gerade den Hörer aus ihren manikürten Fingern und schenkte mir einen strengen Blick über den Rand ihrer Lesebrille. Den Blick kaufte ihr wirklich niemand ab, auch nicht mit der eckigen Hornbrille und dem strengen Dutt, der ihre widerspenstigen, wasserstoffblonden Haare zähmte. Dafür zuckten ihre Mundwinkel zu verräterisch. Als ihre blauen Augen den riesigen Starbucksbecher erblickten, schlich sich das breite Grinsen in ihr schmales Gesicht, das sie versucht hatte zu unterdrücken.

„Dom hat es also ernst gemeint mit dieser Wette?" Ley rieb sich die Hände und ergriff dann den übergroßen Pappbecher. „Du kennst ihn ja", gab ich zurück und verdrehte die Augen. Wenn Dominic sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück mehr. Auch nicht bei dieser wirklich bescheuerten Wette, bei der Dom mir nur vor Augen halten wollte, wie gut er mich kannte und dass er mir stets überlegen war. Denn er war schon immer größer, schneller und stärker gewesen als ich, und dazu noch sechs Jahre älter. Also hatte ich nie, auch nur eine reelle Chance gehabt, wenn er mich zu einer Wette herausforderte, bei der er im Vorhinein schon wusste, dass er sie gewinnen würde. Dom war einfach ein schlechter Verlierer, weswegen er sich auch nur auf todsichere Deals einließ. Nach stundenlangen Sticheleien letzte Woche, wie einfach diese Wette doch zu gewinnen sei, hatte ich mich noch einmal auf eine eingelassen, zu meinem Bedauern. Oder eher zum Bedauern meines Geldbeutels. Wann ist Kaffee so teuer geworden?

„Grüß ihn von mir, wenn du ihn siehst, ja?", bat Ley mich routinemäßig und nahm schlürfend ihren ersten Schluck. Wie konnte sie dieses heiße Zeugs jetzt schon trinken, ohne sich die Zunge zu verbrennen? „Klar, mach ich", entgegnete ich freundlich und begann mit meinen Füßen nach vorne und hinten zu wippen, wobei die Gummisohlen wieder kräftig quietschten. Irgendwie mochte ich dieses Geräusch, es brach die Stille in diesem Eisschloss. Nach ein paar Sekunden räusperte Ley sich lautstark, als sie den Kaffee beiseite stellte und einen Blick auf die tickende Wanduhr hinter sich warf. 16:19 Uhr. „Vielleicht, aber nur vielleicht, solltest du jetzt hoch gehen."

Ashley konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie mit ihrem Zeigefinger auf die Aufzüge deutete. Einer von ihnen öffnete sich gerade wie auf Kommando, mit einem klingelnden Geräusch. Ein älterer Glatzkopf im grauen Nadelstreifenanzug und einem Aktenkoffer in der Hand trat in die Halle. Den Blick starr auf den Ausgang gerichtet, eilten seine kurzen Beine ohne ein „Auf Widersehen" aus dem Gebäude. Da hatte wohl einer einen langen Tag hinter sich.

„Na los, hopp." Ley wedelte mit ihren Händen, um mich förmlich zu verscheuchen. Ich zog einen Schmollmund und bewegte mich dann langsam auf den noch offenen Fahrstuhl zu. Wieder lief diese eintönige, wirklich nervige Jazzmusik in Dauerschleife. Tausendmal schlimmer als die Klavierversion von James Blunts You're Beautiful, von der Warteschleife meines Handyanbieters. Bei dem musste ich letzte Woche anrufen, um ein neues Ding anzufordern, da meins aus heiterem Himmel beschlossen hatte, den Geist aufzugeben. Jetzt konnte ich mich mit dem alten Blackberry meiner Mum rumschlagen, bis mein Neues geliefert wurde. Ein richtiger Knochen. Das Teil stammte noch aus der Steinzeit mit seiner Tastatur und dem Miniaturdisplay.

„Viel Spaß", rief Ley mir noch kichernd hinterher, als ich mich im Aufzug zu ihr umdrehte. Gerade als ich meine Hand heben wollte, um ihr meinen Mittelfinger entgegenzustrecken, schlossen sich die Türen. Ley war wie die Schwester für mich, die ich nie hatte. Sie hatte ein paar Jahre meine Babysitterin gespielt, als meine Eltern unentwegt auf Geschäftsreisen und Fortbildungen gewesen waren und Dom ins Wohnheim gezogen war. Damals hatte Dom sofort Ashley, eine gute High School Freundin, unseren Eltern vorgeschlagen, die bereits mehrere Jahre Erfahrung im Babysitten hatte. Ich weiß nicht, warum ich mit zwölf Jahren noch einen gebraucht hatte, aber jetzt war ich froh um die Freundschaft mit Ley, die sich über diese Zeit entwickelt hatte. Wir waren wie gute Freunde und Schwestern zugleich, trotz des Altersunterschieds. Vielleicht gerade deswegen. Wenn ich einen ehrlich gemeinten Rat benötigte, war sie meine erste Anlaufstelle. Und wenn es zwei Menschen gab, die wussten wie ungern ich dieses Gebäude betrat, dann waren es Ley und Dom.

Ich drückte den Knopf für den neunten Stock und lehnte mich gegen die Spiegelwand, in der Hoffnung sie würde mich zu Alice ins Wunderland transportieren, weit, weit weg von hier. Selbst nach über anderthalb Jahren, sträubte sich etwas in mir, ein merkwürdiges Gefühl in der Magenregion, hier pünktlich zu erscheinen und jedes Mal denselben, ausgeleierten Film durchzuspielen. Für gewöhnlich war ich immer und überall pünktlich. Ich war noch nie zu spät zur Arbeit oder zu meinen Yogakursen erschienen, selbst beim Zahnarzt war ich manchmal sogar überpünktlich. Nur bei Dr. Anderson schaffte ich es nicht, ich wollte es nicht.

Ein merkwürdiges Piepen, das selbst die todbringende Trompetenmelodie übertönte, erlangte meine Aufmerksamkeit. Dieses Handy klang genauso schrecklich wie es aussah. Ich zog es aus meiner Tasche und las die Nachricht, sie war von Dom. „Wieder mal verloren", las ich laut vor und stieß dabei einen verächtlichen Pfiff aus. War ja klar, dass Ley ihm sofort schreiben musste, damit Dom es mir unter die Nase reiben konnte. Dafür würde ich mich später revanchieren. Der Aufzug klingelte und öffnete seine Türen. Ohne zu antworten stopfte ich das ranzige Teil in meine Potasche und schlenderte den leeren Gang entlang, bis ich die Tür zu Andersons Praxis erreichte. Die Einzige auf der ganzen Etage. Seit das Gebäude vor zwei Jahren grundsaniert worden war, suchten die Eigentürmer wieder nach Mietern. Bislang füllten nur Anderson und eine Anwaltskanzlei die sterilen Wände der zehn Stockwerke. Und natürlich Ley den Eingangsbereich, sie musste ihr Geld im Schlaf verdienen. Angekommen hielt ich einen Moment inne und betrachtete zum tausendsten Mal die einzige individualisierte Tür, weit und breit. Das Glas der breiten Tür war mit bunten, blickdichten Folien verdeckt, die zusammen einem Blick durchs Kaleidoskop glichen. Auf Augenhöhe prangte eine matt vergoldete Tafel mit der eingravierten Aufschrift; Dr. T. Anderson, anerkannter Psychiater im Bundesstaat Kalifornien.

Als ich dann endlich die Tür aufdrücken wollte, oder eher musste, wurde sie gleichzeitig von der anderen Seite aufgerissen, wortwörtlich. Mit der Hand noch fest um die Türklinke geschlungen, wurde ich nach vorne gezerrt. Ich stolperte und blieb an dem ausgefransten, hochstehenden Teppichende der Fußleiste hängen. So sehr ich auch mit meinen Armen ruderte, ich verlor mein Gleichgewicht und fiel nach vorne. Noch bevor ich realisieren konnte, was gerade geschah, stieß mein Kopf gegen etwas Hartes. Ich kniff meine Augen zusammen und suchte vergebens mit meinen Händen nach Halt. Ein Gefühl wie auf der Achterbahn schoss durch meinen Bauch und mir wurde der Boden unter den Füßen geraubt. Im Bruchteil einer Sekunde trafen auch meine Handflächen auf etwas warmes Pulsierendes. Ich hob meinen Kopf und riss meine Augen auf.





Hallo an alle, die sich zu meiner ersten Geschichte auf Wattpad verirrt  haben :)


Da ich nicht so genau weiß, was ich sagen könnte, außer das ich hoffe, dass sie euch gefällt, wünsche ich euch einfach viel Spaß.

Kommentare sind immer gerne gesehen :)

xxCeline

FOREVER FOR A WHILEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt