Z W E I

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Mein Herz machte einen Satz, als ich sah, dass jemand unter mir lag. Einen weiteren, als ich einen sanften Griff um meine Hüften spürte. Hastig strich ich meine wirren kupferfarbenen Wellen aus meinem Gesicht. Ein Kerl, ungefähr in meinem Alter, grinste mich schief an. Er sah amüsiert aus, wohl keineswegs wütend darüber, dass ich ihn gerade umgenietet hatte. Peinlich. Mein Herz pochte und mir wurde unheimlich heiß, als ich bemerkte, dass mein gesamter Körper, inklusive Hände, auf seinem gepresst lag und unsere Lippen nur noch gefühlte Millimeter trennten. Sein leicht beschleunigter Herzschlag lag direkt neben meinem rasenden.

Und ich war mir sicher, dass er aus dieser Nähe sogar die winzigen Sommersprossen meiner Wangen begutachten konnte, als sowohl er als auch ich, das Gesicht des uns gegenüber musterten. Seine Haut besaß eine leichte Bräune, von der sich seine schwungvollen, rosigen Lippen deutlich in den Vordergrund drängten, die wiederum perfekt von seinen kantigen Wangenknochen umrahmt wurden. Seine linke Augenbraue wies eine kahle, weiße Stelle auf, die ich als Narbe deutete.

Mein Blick blieb wie gefesselt an seinen Augen kleben. Sie waren verschieden. Das rechte intensiv grün, das linke blaugrau. Wow. Als könnte ich mich nicht entscheiden, in welches ich blicken sollte, wanderte mein Blick von links nach rechts und wieder zurück. Und das in beachtlicher Geschwindigkeit. Als seine bunten Augen zu meinem Ausschnitt wanderten, und sich seine warmen Hände meiner Taille näherten, wurde ich automatisch hellwach und stieß mich hektisch an seiner harten Brust von ihm ab. Augenblicklich checkte ich, ob mein schwarzes Spitzentop noch richtig saß und der Saum noch unter dem Bund meiner Boyfriendjeans lag. Ich atmete tief aus, alles war noch an Ort und Stelle. Doch nicht. Ein Blick auf den Boden verriet mir, dass meine Tasche, plus Inhalt, nun auf dem schwarzen Teppich der Praxis verstreut lag.

„Fuck", fluchte ich leise vor mich hin und bückte mich, um mein Hab und Gut einzusammeln. Schön, dass „Fuck", das erste Wort war, das meine Lippen verließ. Doch in dem Moment vergaß ich meine Umgebung voll und ganz, da ich mich vor Scham am liebsten in den dicken Fasern des Teppichs verkriechen wollen würde. Hoffentlich hatte das keiner der Angestellten gesehen, vor allem nicht meine Mum. Ich hatte keine Lust mich wieder wegen meines Zuspätkommens zu rechtfertigen.

„Alles ok?", schmunzelte jemand über mir. Diese tiefe, raue Stimme löste sofort ein Kribbeln nahe meiner Magengrube aus, die eh schon in Flammen stand. Wie ich Achterbahnfahrten hasste. Ich wusste ohne hinzusehen oder den Wortlaut in meinem Gehirn zu verarbeiten, dass sie ihm gehörte. Als ich zum Schluss meinen Lippenstift vom Boden geklaubt hatte, erhob ich mich. Der Typ stand unmittelbar vor mir, er hielt meine überteuerte Gucci Tasche in der Hand und schwang sie am Gurt hin und her, sodass die zahlreichen Anhänger klimperten. Ein unnötiges, aber trotzdem willkommenes Geschenk meines Dads. Ich trat etwas näher, um sie entgegenzunehmen.

„Ja, sorry", kam es vielleicht etwas zu schroff aus meinem Mund, sodass es nicht mehr wirklich nach einer Entschuldigung klang, was überhaupt nicht beabsichtigt gewesen war. Ich stand einfach noch unter Schock. Sowas war mir noch nie im Leben passiert und es war mir unendlich peinlich. Mit zitternden Fingern verfrachtete ich meine Kosmetik wieder in den Innenraum meiner Tasche und schloss diesmal die silberne Schnalle. Ich wagte einen schnellen Blick durch die Praxis. Die Plastikstühle des kleinen Wartebereichs am anderen Ende waren leer gefegt und hinter dem flimmernden Monitor des gigantischen Holztisches, der sich hinter dem Kerl befand, stand nur ein leerer Drehstuhl. Erleichterung.

Dann sah ich wieder zu dem Typ, wobei ich meinen Kopf ein wenig in den Nacken legen musste. Er fuhr sich gerade durch seine dichten dunkelbraunen, fast schwarzen Locken, die sich wie kleine Engelslocken unter seinem kantigen Kiefer kringelten. Seine rosige Unterlippe zierte ebenfalls eine Narbe, dessen wulstige Haut sich komplett längs durch die Lippe und ein Stück über sein glattes Kinn zog. Doch die Narben taten seinen ebenmäßigen Gesichtszügen keinen Abbruch, eher im Gegenteil. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich wieder beschleunigte, als ich daran dachte, dass ich eben noch auf ihm gelegen hatte. Ich war mir sogar sicher, mehr von ihm gespürt zu haben, als bloß seinen Herzschlag und seine Hände. Von wegen Erleichterung. Als sich seine blaugrünen Augen von dem flauschigen Boden wieder auf meine richteten, blickte ich beschämt weg, falls ich mich noch beschämter hätte fühlen können.

„Tut mir wirklich leid", wiederholte ich mich, als er still blieb und ich seinen Blick auf mir deutlich spüren konnte. Diesmal klang ich zwar etwas überzeugender als zuvor, aber meine Stimme war immer noch dünn und halb in meiner Scham vergraben. Mein Blick wanderte von der beigen Wand hinter ihm, auf Höhe seiner Brust. Der Blick in seine ungewöhnlichen Augen verunsicherte mich noch mehr. Die Perlmuttknöpfe seines dunkelgrauen Hemdes schimmerten im Licht der LED Spots und waren nur zu Hälfte geschlossen, wodurch ein Teil eines schnörkeligen Schriftzugs auf seiner gebräunten Brust entblößt wurde. Die Sprache in der er verfasst war, konnte ich nicht feststellen, sie sah exotisch aus. Dann kam er einen Schritt näher, sodass er direkt neben mir stand, seine Schulter streifte meine für einen Moment. „Nächstes Mal nicht so stürmisch", raunte er nahe meines Ohrs. Ich zog scharf die Luft ein, als ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spürte und mir der Geruch von Minze und Hugo Boss in die Nase kroch. Verdammt.

Ich hörte nur noch wie mein Name gerufen wurde, während ich wie angewurzelt mitten im Flur der Praxis stand, und seine Worte in meinem Kopf widerhallten. „May? Kommst du? Die Zeit läuft uns davon." Hastig, wie aus Trance gerissen, machte ich auf meinem Absatz kehrt und erblickte Dr. Anderson. Sein ergrauter Kopf lugte aus einer weiteren folienbeklebten Tür. Sein gebräuntes Gesicht strahlte wie immer diese Dauerfreundlichkeit aus, die sein Gesicht in kleine feine Fältchen legte. Klar, immerhin wurde er auch in der Zeit gut bezahlt, in der ich nicht anwesend war, während unserer Dreiviertelstunde jeden Freitag.

Ich schulterte meine Tasche und ging mit weichen Knien auf ihn zu. Ich hatte tatsächlich weiche Knie? Scheiße. Bevor ich das Büro betrat, blickte ich noch einmal zurück, ich konnte nicht widerstehen. Der Typ streifte meinen Blick noch flüchtig, dann war er auch schon verschwunden.

Verdammt, was war gerade passiert?

FOREVER FOR A WHILEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt