Gleißende Helligkeit badete Ninive. Tausende Eiskristalle warfen das Licht der Wintersonne zurück und hüllten sie ein in die schattenlose Umgebung. Ihr Weg war nicht lang hinauf zu dem großen Segel, das sich silbern im arktischen Wind blähte, doch Entfernung spielte hier im Norden, wo der Schnee hüfthoch lag und ganze Platten aus Eis die Felsvorsprünge bedeckten, nur eine untergeordnete Rolle. Ein Blick zurück zeigte die kleine Kolonie der Solaris-Nomaden unter ihr. Sie wirkte zum Greifen nah, und dennoch war Ninive bereits seit einer Stunde unterwegs, immer den Abhang hinauf.
Betrachtete man das Große und Ganze, dann war sie bereits seit einigen Wochen unterwegs. Und ein Blick zurück, hätte ihr auch viel mehr gezeigt als nur eine arktische Postkartenansicht einer kleinen Siedlung aus idyllischer Ferne. Ninive hätte ihren Aufbruch aus Paris gesehen, den Abschied von guten Freunden, das Wiedersehen mit Vertrauten aus ihrer Vergangenheit und am Ende die Trennung von Isaak. Mit ihm und seinem Team war sie aufgebrochen, um die undurchsichtigen Pläne einer Gruppierung namens Children of Chou, die unter dem zwielichtigen General Aarick Zervett Regierung und Militär der wichtigsten europäischen Stadtstaaten unterwandert hatten, zu untersuchen.
Und ganz nebenbei hatte sie einiges über sich und ihre Vergangenheit erfahren. Entstanden und aufgewachsen im Rahmen eines Pariser Forschungsprojekts, bei dem geklonte Menschen mit besonderer Begabung – der sogenannten Sangre-Energie – gezüchtet wurden, war sie einer von wenigen Klonen, die ein selbstständiges Leben führen konnten. Durch diese genetische Veranlagung hatte sie eine besonders enge Bindung zum Sangre, das in den letzten einhundert Jahren seit dem ersten Auftreten dieser zuvor unbekannten Energie im Jahr 2013 die Welt entscheidend verändert hatte. Das globale Handels- und Kommunikationsnetz war zusammengebrochen. Die Menschen hatten sich zum größten Teil in wenige große Städte zurückgezogen, Geisterstädte und verwilderte Landstriche waren zurückgeblieben, und die wenigen Kolonisationsprojekte, verbliebenen kleinen Städte und Stationen von Militär und Forschung lebten in ständiger Gefahr durch schwere Naturkatastrophen.
Ninive rutschte mit dem linken Fuß auf einem vereisten Stein aus und griff hastig in den Tiefschnee, um sich abzufangen. Sie hatte das Segel fast erreicht. Es war an einer langen, biegsamen Stange befestigt, die sich etwa zehn Meter empor in den Himmel reckte und vom Wind wie ein Grashalm gebogen wurde. Das Segel bestand aus einer Vielzahl flacher Solarzellen, die die Sonnenenergie in Strom für die Kolonie unten am Fuße des kleinen Bergs umwandelten.
Es hatte bereits seit 2085 keinen transatlantischen Kontakt mehr gegeben, und auch die Verbindungen zwischen den einzelnen europäischen Städten wie Paris oder Hamburg waren immer schwächer geworden. Das Sangre hatte zudem Löcher in das Land gerissen, Zugänge zu Orten, deren Existenz Ninive noch immer nicht ganz verstand. Sie wurden Korridore genannt, da sie einen Durchgang von einem Ort zu einem anderen darstellten.
Als Ninive mit Isaak und ihren Begleitern – den Klonen Sequana, Sasha und Solvejg, dem Sangreforscher Bertrand Gallea und der Psychologin Eva Aden – am Ende der Suche in den Jylland-Kolonien ankam, entdeckten sie einen künstlich geschaffenen Durchgang zu den Korridoren. Und nach einigen ruhigen Tagen in den Dünen der jütländischen Nordseeküste, in denen sie nach der Reise wieder zu Kräften gekommen waren, machten sie sich auf den Weg in die Korridore, um Aarick Zervett und seine Children of Chou zu finden.
Doch bald gerieten sie in einen Kampf mit den Bewohnern der Korridore, den Visaren, und wurden von Isaak und Eva getrennt. Als sie schließlich einen Ausweg fanden, standen sie im beginnenden Winter nahe der Hudson Bay und wurden schließlich von einem Stamm der Solaris-Nomaden gefunden, einer Gruppe, die sich dem Leben in den Städten verweigerte und einen neuen Weg suchte, das Land für sich als Lebensraum zu nutzen.
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Solheim 02 | AMERIKA
Science FictionInmitten der verwaisten Weiten Nordamerikas thront Fleet City auf hohen Pfeilern, die diesen letzten Ort nordamerikanischer Zivilisation vom umliegenden Land abheben. Es ist das Zentrum des menschlichen Lebens, die letzte Metropole der Erde. Weit i...