„Ich habe sie! Endlich habe ich sie!"
Sie lagen sich minutenlang in den Armen. Eva hätten fast die Freudentränen übermannt, aber sie brachte sich noch schnell genug wieder unter Kontrolle. Stattdessen lachte sie ausgelassen und drückte Isaak einen überschwänglichen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn losließ. Sie hatten fast zwei Jahre Wartezeit hinter sich, die ihr schlimmer vorgekommen war als die vierzehn Monate in der Wildnis zuvor.
Drei Jahre waren mittlerweile vergangen, seitdem sie von Europa aus in die Korridore aufgebrochen und wenig später ihre Gefährten verloren hatten. Eva dachte zurück an den Tag, an dem sie Isaak halbtot durch eine Art großen Fuchsbau aus dem Horrorland der Visaren zurück in die wirkliche Welt gezogen hatte. Sie waren irgendwo in den weiten Wäldern Nordamerikas gelandet. Wo genau, das wusste sie bis heute nicht. Eva hatte einen kleinen Unterstand gebaut und mit den Kenntnissen der Humanmedizin, die sie auch als Psychologin in Hamburg hatte lernen müssen, ihren Bruder zurück ins Leben geholt.
Isaak war nicht wirklich ihr Bruder. Er war genau genommen etwa einhundert Jahre älter als sie, hatte jedoch fast genau diese Zeitspanne unfreiwillig im Kälteschlaf verbracht, sodass er so alt aussah, wie sie mit Mitte dreißig war. Allerdings hörten beim Alter die äußerlichen Ähnlichkeiten auch bereits auf. Während Eva mit ihrer dunkelbraunen Haut, den ebenmäßigen Gesichtszügen und der weiblichen Figur einer klassischen Schönheit entsprach, war der blonde, eher blasse Isaak weder besonders groß noch besonders klein, hatte ein eher durchschnittliches Gesicht und nur seine muskulöse Figur war auf den ersten Blick bemerkenswert, sofern er sie nicht unter weiter Kleidung verhüllte. Allerdings war Isaak der geborene Anführer, ohne dass er es besonders betonen musste. Seine Ausstrahlung und Wirkung auf Menschen war so einnehmend, dass sich eigentlich kaum jemand die Frage nach seinem Aussehen stellte. Isaak gab den Menschen Halt und ließ sie in die unwahrscheinlichsten Dinge vertrauen, offenbar ohne es selbst zu bemerken.
Wäre ihm diese Fähigkeit in vollem Umfang bewusst gewesen, er hätte wohl jeden Menschen verführen können, dessen war sich Eva sicher. Und genau aus diesem Grund – und weil seine meerblauen Augen ein weiteres Detail waren, dass man erst sah, wenn man ihn näher betrachtete – hatte Eva entschieden, ihn als ihren Bruder zu betrachten. Vor zwei Jahren in den einsamen Nächten im Wald, als Eva im Schein eines kleinen Feuers viel Zeit hatte um den schwach atmenden Isaak zu betrachten, als sie seine Wunden verarztete und zusah, wie er wieder zu Kräften kam und wie selbstverständlich ihren Weg in die richtige Richtung lenkte.
Und dieser Weg führte sie schließlich in die Kolonien vor Fleet City. Nach den Aussagen der Bewohner dort war Fleet City die einzige verbliebene Stadt relevanter Größe auf dem Gebiet der ehemaligen Vereinigten Staaten und Kanadas. Einst unter dem Namen Skull City während der Zeit des Eisenbahnbaus zwischen Ost- und Westküste gegründet, war die Stadt im Laufe der Jahrhunderte immer schneller gewachsen, und als die Menschen im durch die Naturgewalten besonders gebeutelten Nordamerika vor Stürmen, Fluten, Tsunamis, Erdbeben und sintflutartigem Dauerregen flohen, trafen sie sich hier im Zentrum des Kontinents, der als einziger ihnen bekannter Ort von allen Naturkatastrophen verschont geblieben war.
Die Stadt wuchs dadurch noch weiter, und bald gab es ein massives Flüchtlingsproblem, das schließlich so gelöst wurde, wie es Menschen an unterschiedlichsten Orten der Welt in ihrer Geschichte schon so oft getan hatten: die Flüchtlinge bekamen eigene Ghettos vor der Stadt.
Doch damit nicht genug, ein Konsortium aus den wichtigsten Konzernen der Stadt – darunter Kema Industries und Al Jarni & Foster – beschlossen, die gesamte Stadt in den Grenzen vor der Ankunft der Flüchtlinge auf ein gigantisches Podest – Floß genannt – zu stellen, das wiederum durch unzählige gigantische Hovermodule mehrere hundert Meter in die Luft gehoben werden konnte. Dieses Floß wurde dann auf ein System an Pfeilern und Dämpfern gesetzt, sodass die Hovermodule im Normalfall nur die Stabilität unterstützen und nicht die ganze Stadt tragen mussten.
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Solheim 02 | AMERIKA
Ciencia FicciónInmitten der verwaisten Weiten Nordamerikas thront Fleet City auf hohen Pfeilern, die diesen letzten Ort nordamerikanischer Zivilisation vom umliegenden Land abheben. Es ist das Zentrum des menschlichen Lebens, die letzte Metropole der Erde. Weit i...