Prolog ~ Her

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Bedrohlich quietschend gibt der Türgriff unter dem schwächlichen Druck meiner Hände nach.
Sie zittern wie verrückt, weshalb ich gezwungen bin, beide Hände zu benutzen. 
Ich muss mich daran erinnern, weiter gleichmäßig ein und auszuatmen, bevor ich meinen Fuß dabei beobachten kann, wie er einen wackeligen Schritt nach vorne macht.
Mein Kopf fühlt sich an als wäre er komplett leergefegt. Als wäre dort Stille und Gewissheit eingekehrt, wo bisher nur Chaos und Verzweiflung herrschte.
Ich nehme kaum etwas aus meinem Umfeld wahr und meine Reaktionsfähigkeit beschränkt sich praktisch auf ein Minimum.
Darum grenzt es an ein Wunder, dass ich mich gerade noch am Türgriff festklammern kann, als meine Augen beginnen zu flackern und der Boden unter mir davonrutscht.
Laut keuchend, aber nur wenig beeindruckt, rapple ich mich in Zeitlupe wieder auf.
Bevor ich meinen Weg fortsetzen kann, brauche ich einen Moment, um die Übelkeit in meinem Magen zu bändigen, die mir schleichend die Speiseröhre hinaufzukriechen droht.
Wenn ich meinen Mund einen kleinen Spalt öffne und wieder schließe, kann ich die Bitterkeit auf meiner Zunge schmecken, die sich dort Stück für Stück verteilt.
Als sich meine Knie wieder beinahe vertrauenswürdig anfühlen, braucht es nur drei Schritte um den Spiegelschrank über dem Waschbecken zu erreichen.
Ich halte mich nicht zu lange damit auf, mich darin zu betrachten, denn was ich darin sehen würde, kenne und verurteile ich schon zur Genüge.
Das komische, blasse Etwas, dessen Hautton wirklich mal wieder eine Sonnendusche gebrauchen könnte.
Dessen alarmierend rote Haarfarbe einen starken Kontrast zu allem darstellt, was es verkörpert, weil sie viel zu auffällig ist, um damit erfolgreich in einer Menschenmenge abzutauchen.
Ein Etwas, das seine Haare aber auch irgendwie passend findet, weil das kräftige Rot die Menschen von ihm fern hält, sie warnt.
Theoretisch kann man sich das wie in der Tierwelt vorstellen. Es springt einen quasi an und schreit: "Achtung, Gefahr! Bitte möglichst schnell verschwinden und keinen Kontakt zu diesem Individuum aufnehmen."
Und das ist gut so, weil sich das Etwas als solch eine Gefahr für andere Menschen wahrnimmt, sich aber gleichzeitig damit vor weiteren Verletzungen zu schützen versucht.
In seiner Vergangenheit wurde das Etwas einfach schon viel zu oft verletzt.
Zu seinem Glück hängt der Spiegel besonders hoch, sodass es nur bis knapp unter den Hals im Spiegel zu sehen ist.
Mag ja sein, dass das Etwas weder seine Haut noch seine Haare leiden kann, aber seinen Körper hasst es noch viel mehr. 
Meine Finger lösen sich vom Rand des Waschbeckens und ich kann beobachten wie das Blut wieder zurück in die hellen Stellen an meinen Knöcheln schießt, die sich gerade noch so verzweifelt um den glatten Marmor klammerten.
Das Glas, in dem sich die Zahnbürsten befinden, leere ich einfach aus und beachte nicht, dass fast der gesamte Inhalt auf dem Boden landet.
Als es sich langsam füllt, rinnt auch etwas Wasser über meine Haut, doch ich spüre seine Berührung kaum.
Kurz verliere ich mich in der Betrachtung, doch als ich mich wieder erinnere, was ich hier tue, reiße ich mich zusammen.
Mit einem leisen Klacken öffnet sich die Türe des Spiegelschranks und da steht sie.
Einen kurzen Moment halte ich inne, lege meinen Kopf schief, während mir kaum merklich die Andeutung eines erlösenden Lächelns durchs Gesicht huscht.
In diesem Augenblick kann ich nur an Ruhe denken, an Frieden und an die von meinen Schultern fallende Last, die mich schon so lange erdrückt.
Doch dann ist der Augenblick schon wieder vorbei.
Mechanisch lege ich meine kühlen Finger um das Döschen, schließe den Schrank mit einem erneuten leisen Klacken und gebe endlich dem Betteln meiner zitternden Beine nach.
Der Fußboden unseres Badezimmers ist schneeweiß und eiskalt.
Dadurch leuchtet die orangene Pillendose in meiner linken Hand wie ein Warnzeichen in der Nacht.
Ich bemerke nicht, dass ich die Luft anhalte, während ich das Glas auf dem Boden abstelle und sich meine rechte Hand zielstrebig in die Richtung des farbigen Plastiks vorstreckt, um den Deckel mit einem ohrenbetäubenden Plopp zu öffnen.
Und nicht einmal die schneidende Kälte, die langsam meine Beine hochkriecht,  hält mich davon ab.
Still und einsam läuft mir eine Träne die Wange hinunter.
Für mich quälend langsam und schmerzvoll, für andere beinahe unsichtbar.
So habe ich mich die letzen Monate gefühlt.
Vergessen vom Rest der Welt, verachtet, verlassen.
Eingesperrt in meinem winzigen, bedeutungslosen Leben.
Jeden Morgen wachte ich mit der Gewissheit auf, dass mich dieser Tag ganz genauso verfolgen und zu Boden werfen würde, wie der Vorherige.
Und irgendwann fehlte mir einfach die Kraft, tagtäglich den selben Horror zu erleben.
Trotzdem immer wieder aufstehen und weiterlaufen zu müssen.
Dabei war alles, was ich je wollte, doch nur den Erwartungen gerecht zu werden, die an mich gestellt werden.
Eine gute Schülerin sein, eine brave Tochter, eine liebe Schwester, aufmerksam und hilfsbereit, immer freundlich zu jedem.
Lächeln. Durchhalten. Stark sein.
Aber irgendwann gaben meine Beine von selbst nach.
Irgendwann konnte ich das Gewicht, das sich über die Jahre hinweg auf meinen Schultern verteilte und mich kontinuierlich nach unten zog, nicht mehr tragen.
Unglücklicherweise war ich darauf nicht vorbereitet, weshalb ich hart auf dem Boden aufschlug.
Ich hätte damals Hilfe gebraucht, irgendeine Art von Unterstützung.
Jemanden, der mich wieder auf die Beine brachte und mich festhielt, vor allem, wenn mich meine eigene Kraft im Stich ließ.
Blind tastete ich mich durch die dunkle Leere, den letzten Rest an Hoffnung aufbrauchend, den ich mir bewahrt hatte.
Doch ich war allein.
Niemand war da um mir zu helfen und ich war vollkommen am Ende.
Erschöpft, hilflos und kaum atmend, darum blieb ich einfach liegen.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte ...
Dass man bemerken würde, was mit mir los ist?
Dass man mich verstehen würde?
Dass man mir endlich die Aufmerksamkeit schenken würde, die ich brauchte, um die Hilfe zu bekommen, die ich mittlerweile bitter nötig hatte?
Oder war mir von Anfang an klar, dass man diesen - meinen - Zusammenbruch als Versagen interpretieren würde?
Dass von jetzt an nur noch Ärger und Vorwürfe auf mich einprasseln würden?
Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht.
Vielleicht war es mir in dem Moment auch einfach vollkommen egal.
Diese Gleichgültigkeit schlich sich damals unbemerkt in mein Herz, heimlich und leise, und dann immer mehr.
Dabei ist das normalerweise überhaupt nicht mit meinen Gefühlen vereinbar  - ein weiteres Zeichen, dass ich durchgehend litt.
Kraftlos schließe ich die Augen und senke den Kopf, um den Tränen die richtige Richtung zu weisen, die sich so verzweifelt an meinen Wimpern festklammern.
Alles was ich will, ist, dass das endlich alles ein Ende hat.
Ich will niemanden mehr enttäuschen, niemandem mehr zur Last fallen müssen.
Das geht schon viel zu lange so, dass ich allen Menschen aus meinem Umfeld nur ein Anhängsel bin.
Sogar ich selbst will endlich Ruhe vor mir.
Vor mir und meinen Gedanken, die versuchen, mir ihre eigene Wahrheit einzutrichtern und damit mein gesundes Urteilsvermögen zerstören.
Erschöpft lasse ich meinen Kopf auf meine Handgelenke fallen, schrecke aber sofort auf, als ein scharfer Schmerz durch meine Stirn zuckt.
Auch das will ich nicht mehr.
Ich habe genug Schmerzen in diesem Leben erlitten, noch mehr kann ich einfach nicht ertragen.
Ich werde nun da stark sein, wo ich es nie war.
Ich werde jetzt und hier verhindern, dass ich noch mehr Schaden anrichten kann.
Ich werde alles Negative im Leben meiner Eltern auslöschen, all die zukünftigen Enttäuschungen verhindern.
Sie werden ihr Leben leben können, ohne andauernd auf mich Rücksicht nehmen zu müssen, ohne sich ständig über meine Fehler zu ärgern. Ich werde ihnen alle zukünftigen Familienessen voll von betretenem Schweigen und peinlichen Fragen ersparen.
Mein ganzes Leben war ein Ausrutscher des Universums, ein einziger riesengroßer Fehler, ein Makel in der Geschichte. Und diesen Makel werde ich jetzt korrigieren.
Ich öffne meine Lippen so weit es geht und mit einer einzigen Handbewegung landen über ein Dutzend glatte, bittere Pillen in meinem trockenen Mund.
Hektisch greife ich nach dem Glas, denn ich kann schon fühlen, wie die untersten Tabletten anfangen an meiner Zunge festzukleben.
Alles geht ganz schnell.
Das kalte Wasser rinnt mir die Kehle hinab, während ihm eine Pille nach der anderen folgt.
Es ist anstrengend, aber ich trinke das gesamte Glas aus und versuche, die nass-klebrigen Spuren zu ignorieren, die meine Tränen hinterlassen.
Als mein Mund endlich leer ist, wische ich mir mit beiden Händen durch das Gesicht und lausche dem leisen Klirren, als ich das schwere Glas vor mir abstelle und sein Rand auf den Steinboden trifft.
Jetzt hab ichs getan.
Jetzt gibt es kein Zurück.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals und mein Blut rauscht mir in den Ohren.
Plötzlich wird mir wieder schwindlig und ich habe das dringende Verlangen, mich hinlegen zu wollen.
Vorsichtig kippe ich zur Seite, schiebe meine immer noch zitternden Hände unter meinen Kopf und ziehe die Beine eng an meinen Körper.
Hier endet es also.
Ein röchelndes Schnauben kommt aus meiner Nase, die wegen der vielen Tränen fast vollkommen zu ist.
Ich habe mir meinen Tod in diesen vergangenen Monaten schon oft vorgestellt und ich hätte nicht gedacht, dass es so friedlich verlaufen würde.
Jedoch muss ich feststellen, ich bin froh darüber.
Ich war noch nie ein Mensch, der einen Haufen Drama brauchte.
Nicht ich, die eigentlich täglich nichts mehr wollte, als sich in Luft aufzulösen.
Jetzt liege ich hier und weiß nicht, ob ich vor Freude oder vor Trauer weinen soll.
Deshalb weine ich mich einfach in den Schlaf, und es fühlt sich fast genauso an wie jeden Abend.

Das Mädchen, das sein wollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt