Chapter 3 ~ Him

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"Nein!!! Ich schwöre bei meinem Grab, dass ich meinen Arm nicht angerührt habe! Hier sind gemeingefährliche Schubser unterwegs!" Eigentlich bin ich ja ein sehr geduldiger Mensch, aber auch ich besitze Grenzen. Meine wurden soeben erreicht. Dass ich keine Reaktion bekomme, macht mich noch rasender.
"Mr. Winters, würden Sie sich bitte beruhigen, sonst kann ich den Verband nicht wechseln." Die schüchterne Stimme von Schwester Tina, die eigentlich mehr ein Stimmchen ist, hat doch die Kraft, mich von meiner Welle der glühenden Wut herunterzuholen, um wenigstens ihr zuliebe zu versuchen, mich ein wenig im Zaum zu halten.
Doch das hindert mich nicht daran Dr. Jacobs, der am Bettende steht und wie so oft in den letzten Tagen etwas in meine Krankenakte kritzelt, böse Blicke zuzuwerfen. Ich bete im Stillen, sie würden ihn trotz des schwarzen Haarbüschels, das mir in die Augen hängt, von innen heraus verbrühen.
Leider scheint das nicht zu funktionieren, denn im nächsten Moment klappt Dr. Jacobs die Akte vollkommen unbeeindruckt zu und dreht sich zu mir um. 
"Alec, ich bin der festen Überzeugung, dass du einen privaten Therapeuten in Betracht ziehen solltest. Wie wärs, wenn ich dir eine Überweisung ausstelle?"
Ich starre ihn weiter mit meinem Du-bist-des-Todes-Blick an. Immer wieder dieselbe Leier.
Dr. Jacobs nickt. Er wusste bereits bevor er die Frage gestellt hat, wie ich reagiere.
Trotzdem versucht er es nochmal. 
"Ich weiß, du hast schon einiges erlebt, was das angeht und bist momentan nicht unbedingt dazu geneigt, dich wieder jemandem anzuvertrauen. Aber Alec, das hier sieht nicht gut aus." Er tippt auf meine zugeklappte Akte.
"Du weißt, dass du an einem Abgrund stehst und weigerst dich komplett, dir helfen zu lassen. So kann das doch nicht weitergehn! Willst du nicht irgendwann wieder ein normales Leben führen?"
Spöttisch rolle ich mit den Augen. Der Mann hat Nerven! Als ob das in Aussicht stünde!
So lange schleppe ich diese Seelenqualen nun mit mir herum, ich weiß doch gar nicht mehr was normal ist. 
Als Reaktion auf seine Frage verschränke ich die fertig verbundenen Arme, während ich in meinem Kopf darüber philosophiere, ob wohl Dr. Jacobs weiß, was normal ist oder ob es ein "normal" überhaupt gibt auf dieser Welt.
Sein Blick liegt noch eine Weile auf mir, dann seufzt er, hängt das Klemmbrett zurück ans Bett und verlässt den Raum. Schwester Tina huscht wie ein Schatten leise und unauffällig hin und her, um die Routineuntersuchungen für diesen Tag abzuhaken. Sie ist nett, aber mich würde es nicht wundern, wenn mir jemand erzählen würde, dass sie auch schon einen Klinikaufenthalt hinter sich hat. Prompt frage ich mich, wie ihr Leben ausgesehen haben mag, dass sie so geworden ist.
Grade die, die nicht auffallen wollen, sind die mit den Geschichten. Im Laufe der Jahre sind diese Menschen interessant für mich geworden.
Die, die wirklich etwas erlebt haben. Die, die wissen wie das Leben spielt.
Ich mag Geschichten. Außerdem ist es schön zu wissen, dass nicht nur ich kämpfen muss in dieser endlos scheinenden Schlacht. Dass es Überlebende gibt, die mein Schicksal teilen und trotzdem fest im Leben stehen. Ich weiß, wie viel Kraft und Mut es einen kostet, sich täglich aufs Neue aufzuraffen und weiterzumachen. Nicht aufzugeben und immer wieder aufzustehn, egal wie oft man hinfällt.
Manchmal finde ich meine Kraft in solchen Menschen.
Als Tina geht, versuche ich mich an einem Lächeln, auch wenn mir das nur schwer gelingt und bestimmt auch unglaublich unecht aussieht.
Doch sie lächelt zurück und das macht diesen Tag etwas weniger vergeudet.
Als sie weg ist, sitze ich unschlüssig auf meinem Bett. Meine Wut ist mittlerweile verraucht und ich spüre bereits wie sie der Leere den Platz räumt. Da es bald Abendessen gibt, ist es an der Zeit für mich, aus meinem Zimmer zu verschwinden. Kurzerhand beschließe ich spazieren zu gehen, um an diesem viel zu langen Tag wenigstens etwas Sinnvolles getan zu haben. Zwar kann ich nicht weit weg, da ich immer noch als "Gefahr für mich selbst" eingestuft bin, aber mittlerweile kenne ich Betonklötze wie diesen. Es gibt immer irgendwo einen ruhigen Ort, an den man sich verkrümeln kann, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt. Man muss nur schlau genug sein, ihn zu finden.
Wobei ich es mir mit dem Garten hier sehr einfach gemacht habe. Er gehört zum Haus und es ist sogar ausdrücklich erwünscht, dass sich grade meine bescheidene Wenigkeit dort aufhält. Positive Energie und so. Normalerweise würde ich mich schon aus Prinzip davon fernhalten, aber ich mag die Natur und der Garten ist echt schön.
Außerdem habe ich mich mit dem alten Gärtner George angefreundet, der einmal die Woche vorbeikommt. Ich mag an ihm, dass er viel über das Leben und seine Pflanzen weiß, außerdem versteht er mich. Vor drei Jahren ist seine Frau an einem Schlaganfall verstorben. Wenn jemand weiß, wie es ist, einsam zu sein und keinen Grund mehr zum Leben zu haben, dann er.
Ich glaube, er kämpft auch.
Plötzlich muss ich wieder an gestern denken. Ganz schön viele Rettungsleute und Sirenen für ein kleines Mädchen. Ich kann nicht umhin mich erneut zu fragen, warum sie wohl hier sein mag. Schulunfall? Kreislauf?
Den gesamten Weg bis zum Garten grüble ich darüber nach.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 25, 2021 ⏰

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Das Mädchen, das sein wollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt