Chapter 2 ~ Her

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Als ich aufwache, muss ich meine Augen direkt wieder schließen.
Das Sonnenlicht, das sich zwischen den langen Vorhängen hindurchdrängelt, fällt mir genau in die Augen und hindert mich daran, irgendetwas anderes um mich herum zu erkennen.
Dafür kann ich nun aber ganz deutlich den dumpfen Schmerz spüren, der hinter meiner Schläfe pocht.
Mein Körper fühlt sich an als wäre ich einer von diesen Vampiren aus den Filmen, wenn sie das Sonnenlicht erwischt.
Innerlich stöhne ich auf und werde dann tatsächlich erlöst.
Die Sonnenqual hört auf und ich öffne meine Augen blinzelnd.
Im ersten Moment dreht sich alles und mein Blickfeld verschwimmt.
Mir wird schwindelig und ich bin froh, dass ich bereits liege. Tief durchatmen.
Für einen kurzen Moment konzentriere ich mich nur auf meinen Atem bis das Gefühl mich übergeben zu müssen wieder abebbt.
Dann starte ich einen neuen Versuch und schaffe es nun doch, meine schweren Lider offen zu halten.
Ich blinzle und die Welt wird endlich ein bisschen klarer.
Stirnrunzelnd sehe mich um.
Weiße Laken, weiße Wände, weiße Vorhänge.
Noch kann ich mir keinen Reim darauf machen, wo ich bin.
Ich versuche es erneut.
Grüner Fußboden, schwarzer Fernseher, rote Blinklichter.
Ich runzle die Stirn.
Ein Krankenhaus? Was will ich denn hier?
Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, was passiert ist, aber alles, was in meinem Kopf herumschwirrt, ist gähnende Leere. Hatte ich einen Unfall?
Prüfend sehe ich an mir hinunter, bewege meine Arme und Beine, aber alles scheint noch schmerzfrei zu funktionieren.
Bisschen erschöpft vielleicht.
Doch ich gebe mir nicht die Zeit Erleichterung zu spüren, denn in meinem Kopf rattert es fleißig weiter.
Was, wenn ich nicht diejenige bin, die verletzt wurde?
Gehts meiner Schwester gut? Ich reiße die Augen auf. Wo ist meine Schwester?
Und wo ist meine Mum? Mum?
Ich will rufen und nach ihr schreien. Dass ich kein kleines Kind mehr bin, ist mir in diesem Moment vollkommen egal.
Ich bin nur froh, zu wissen, dass ich eine Mum und eine Schwester habe.
Ich will ganz laut Minnie, wo bist du?? rufen, bis sie hier angelaufen kommt und sich mir in die Arme wirft.
Aber kein Ton kommt aus meiner Kehle.
Langsam aber sicher gerate ich in Panik und setze mich ruckartig auf. Mein Kopf straft mich direkt. Atmen.
Ich versuche verschiedene Sachen zu sagen, zu flüstern, normal zu reden, mich zu räuspern, aber bis auf ein klägliches Röcheln höre ich gar nichts.
Vorsichtig probiere ich aufzustehen, aber ich kann mich nicht auf meine rechte Hand stützen, weil irgendetwas daran drückt und sticht.
Eine Infusionsnadel! Verwirrt schüttle ich den Kopf und bereue es sofort wieder, weil der Schmerz mit voller Wucht zurückkehrt. Ein. Aus. Ich kneife die Augen zusammen und zwinge mich, still zu halten bis das Pochen nachlässt.
Dann ziehe ich vorsichtig das lange Ding aus meinem Handrücken und werfe es in eine Schüssel auf dem Nachttisch.
Dabei muss ich die erneut aufkommenden Übelkeitsgefühle unterdrücken. Ich konnte noch nie gut mit Nadeln.
Als ich vom Bett rutsche, wundere ich mich kurz über meinen Aufzug. Krankenhaushemd.
Und dann stehe ich vor der Tür.
Ich muss jemanden finden, der mir all das hier erklärt. Der mir sagt, wo Mum und Minnie sind und ob es ihnen gut geht. Jemand, der mir sagt, was ich in einem Krankenhaus zu suchen habe, warum um mich herum rote Lichter blinken und vor allem warum Nadeln in meiner Hand stecken, wenn es mir doch gut geht.
Aber ein Gutes hat das Alles hier; ich kann jetzt ganz sicher sagen, dass die Knochen in meinem Körper noch intakt sind, denn ich spüre gerade jeden einzelnen von ihnen.
Das macht mich noch neugieriger, endlich zu erfahren, was mich denn genau in ein Krankenhaus verschlagen hat.
Ich war noch nie im Krankenhaus. Zumindest nicht mit Bett und Nadeln und allem drum und dran.
Reflexartig lege ich einen Arm um meinen Bauch, bevor ich den Kopf aus der Tür stecke. Der Gang ist leer, bis auf ein paar grüne Stühle und die großen Bilder an den Wänden.
Eine Landschaft gefällt mir besonders gut, in der man einen See und daneben Wald entdecken kann, wenn man auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges steht, so wie ich.
Ich wünschte, ich könnte genauso gut malen, denke ich, ohne, dass ich es verhindern kann.
Verärgert schüttle ich den Kopf und trete hinaus auf den Gang. Für solche Gedanken habe ich jetzt wirklich keine Zeit. Ich muss Mum und Minnie finden!
Nachdem ich mir mein eigentliches Ziel wieder vor Augen geführt habe, strenge ich das, was sich unter meinem roten Haarschopf befindet, kräftig an.
Wo kriege ich irgendeine Art von Auskunft her? An der Information. Gut.
Jede Station hat doch ganz sicher sowas.
Nachdenklich nicke ich und laufe dann zielstrebig los.
Das grelle Deckenlicht blendet mich und verstärkt meinen Kopfschmerz noch zusätzlich, aber das hindert mich nicht daran, weiterzugehen.
Auf dem Weg renne ich beinahe in einen Snackautomaten hinein und tadle mich sofort.
Tollpatschige Lia! Hast du denn gar keine Augen im Kopf? Typisch Ich.
Gerade will ich einen großen Bogen um die Maschine machen, als mein Magen knurrt.
Ich seufze. Jetzt habe ich weder Zeit etwas zu essen, noch irgendwas an Geld dabei, um mir etwas zu kaufen. Vorsichtshalber merke ich mir aber die Stelle, falls ich später noch Hunger haben sollte.
Mir fällt ein Stein vom Herzen als ich endlich die Glasscheibe der Information sehe.
Höflich klopfe ich an die Tür. »Hallo?«
Noch etwas krächzend, aber besser als nichts.
Keine Reaktion.
Ich klopfe erneut, dieses Mal etwas fester. »Entschuldigung? Ist da jemand?«
Ungeduldig linse ich durch die Glasscheibe in den Raum.
Ich zucke zusammen als plötzlich eine ältere Dame mit Goldbrille auftaucht und die Tür öffnet.
»Oh entschuldige, Liebes! Ich dachte doch, ich hätte was gehört. Wie kann ich dir helfen?«
Sie mustert mich von oben bis unten und runzelt die Stirn: »Bist du okay, Liebes? Was machst du überhaupt hier?«
Ich hole tief Luft und setze zu einem Erklärungsversuch an, als ihr Blick auf meine Hand fällt.
»Ach Gottchen, Liebes! Du bist ja verletzt! Lass mich einen Arzt rufen.« Schon ist sie wieder hinter der Tür verschwunden.
Ich blinzle überrumpelt und drücke dann hastig die Türklinke runter. Um sie von ihrem Vorhaben abzubringen ist es leider zu spät, denn sie hat bereits den Hörer in der Hand.
»...junges Mädchen und sie hat an der Hand eine frische Verletzung.« Sie runzelt die Stirn und sieht mich an. »Ja, hat sie. Oh, ja, einen Moment, das hab ich ganz vergessen zu fragen. Wie ist denn dein Name, Liebes?«
Mich erstaunt, dass ich nicht einmal nachdenken muss und werte das vorerst als positives Zeichen: »Lia.«
Sie lächelt erfreut. »Passt zu dir.«, und gibt dann die Information weiter.
Dem Menschen am Telefon scheint das auszureichen, denn nur einen kurzen Moment später legt die ältere Dame den Hörer auf und kommt auf mich zu.
»Lia-Schätzchen, es wird alles wieder gut. Ein Arzt wird sich gleich um dich kümmern.«
Sanft legt sie ihren Arm um meine Schultern und schiebt mich zu einem Stuhl.
»Setz dich, setz dich. Wir wollen ja nicht, dass du uns am Ende noch aus den Socken kippst.« Sie kichert leise.
Widerstandslos lasse ich mich auf das weiche Polster fallen und merke erst jetzt wieder wie erschöpft ich bin.
»Du siehst blass aus, meine Liebe. Möchtest du was trinken?«
Ich nicke dankbar, weil sich mein Hals anfühlt, als hätte ich Schleifpapier verschluckt.
Während sie mir einschenkt, blickt sie kurz über ihre goldberandete Brille zu mir herunter.
»Jetzt erzähl mal, Liebes. Was ist denn passiert, dass du mutterseelenallein auf der Station herumspazierst, noch dazu verletzt!?«
Sie reicht mir das volle Glas und sieht mich besorgt an.
Ich nehme einen großen Schluck und rücke endlich mit der Sprache raus.
»Vorhin bin ich einfach so in einem Bett hier im Krankenhaus aufgewacht, mit Nadeln in mir drin und furchtbaren Kopfschmerzen. Aber ich hab selbst echt keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Das müssen Sie mir glauben!«
Sie nickt.
»Können Sie mir bitte sagen, was ich hier mache? Ich hab einfach nur Angst, dass meiner Mum oder meiner Schwester was passiert ist. Könnten Sie vielleicht nachschauen, wo die zwei sind, damit ich nach ihnen sehen kann?« Bittend blinzle ich sie an.
Plötzlich räuspert sich jemand hinter mir.
Ruckartig drehe ich mich um und blicke ins Gesicht eines ernstdreinschauenden Mannes.
»Hallo, Lia. Vielleicht kann ich dir da ja weiterhelfen.«
Er lächelt kurz und streckt mir dann seine Hand hin. Der Geruch von Desinfektionsmittel schlägt mir entgegen.
Schnell stehe ich auf, um die Höhendifferenz auszugleichen und nehme seine Hand. »Hallo.«
»Ich bin Dr. Dreyler, dein behandelnder Arzt hier auf der Station.«, sagt er und schüttelt meine Hand kräftig.
»Tut dir irgendwas weh?«
Verneinend schüttle ich den Kopf, doch auch ohne die bohrenden Blicke zu bemerken, die die Stationsdame auf meine Wunde wirft, entdeckt er das Blut an meiner Hand.
»Hast du die Infusion selbst entfernt?«, fragt er stirnrunzelnd. Ich nicke.
»Das solltest du aber in Zukunft wirklich sein lassen. Dabei könntest du dich ernsthaft verletzen.«
Er schaut mich mahnend an und ich nicke erneut brav.
Dann wechselt sein Blick abermals.
Ist das etwa Mitleid?
»Lia«, fängt Dr. Dreyler vorsichtig an. »Deiner Mutter und deiner Schwester gehts gut. Mach dir keine Sorgen. Beide kommen nachher vorbei, wenn du das möchtest.«
Kaum hat er die Worte ausgesprochen, fällt meine innere Anspannung mit einem Mal in sich zusammen.
Mir wird sogar ein bisschen schwindelig, so froh bin ich, dass die beiden okay sind.
Ich weiß nicht, wie ich ihren Verlust sonst hätte verkraften sollen. Die beiden bedeuten mir alles.
Schnell setze ich mich wieder, um nicht auch noch vor den Augen des Stationsarztes umzukippen. Für heute habe ich genug Zeit hinter diesen tristen Wänden verbracht.
»Lia...«, setzt er erneut an, als ich mich etwas beruhigt habe. »Lia ... ihnen mag es gut gehn, aber ist mit dir alles okay?«
Ich sehe ihn verwirrt an. Wieso fragt er das?
Ich halte einen Moment inne um herauszufinden, ob es irgendetwas gibt, das nicht okay zu sein scheint.
Doch bis auf die Schmerzen und ein leicht schwummeriges Gefühl im Kopf finde ich nicht, dass mir was fehlt.
»Ja, ich denke schon, wieso?«
Er räuspert sich und wirft der Schwester einen nervösen Blick zu. Dann rückt er endlich mit der Sprache heraus: »Du bist hier im Krankenhaus wegen suizidalen Verhaltens. Lia, du hast versucht, dir das Leben zu nehmen.«
Ich blinzle und im ersten Moment kann ich seine Worte gar nicht richtig einordnen oder verstehen.
Dir das Leben zu nehmen.
Seine Worte hallen in meinem Kopf.
Warum sollte ich sowas tun?
Dann trifft es mich auf einmal wie ein Schlag in den Magen.
Mit einer Wucht, die ich nicht erwartet habe, kehren all meine Erinnerungen zurück und rauben mir den Atem.
Auf einmal wird mir eisig kalt. In meinem Kopf pocht der Schmerz und das Atmen fällt mir schwer, als hunderte von Bildern auf mich einprasseln.
Ich in der Schule bei Gruppenarbeiten - in der Mittagspause -im Sportunterricht - ich in der Bahn - ich zuhause am Esstisch - ich nachts in meinem Bett - meine roten Locken im Badspiegel - das stechende Orange einer Dose - tropfende Tränen - die weißen Tabletten in meiner Hand - die kühlen Fließen und dann Schwarz. Tieftrauriges, triefendes, alles verschluckendes, klebriges, pechschwarzes Schwarz. Ich atme keuchend ein und aus.
Jede einzelne neue Erinnerung zieht die unsichtbare Schlinge um meinen Hals noch fester zu und treibt mir die Tränen in die Augen.
Allein, allein, allein, allein, hallt es in meinem Kopf immer und immer wieder.
Meine Hände wandern an meinen Hals und ich muss nach Luft schnappen, um nicht in den Schmerzen zu ertrinken.
Ich war so einsam ...
Eine Träne kullert mir die Wange hinunter.
Ich habe jeden Tag so sehr gelitten.
Jetzt ist mir klar, warum sich mein Kopf vor diesen Erinnerungen verschließen will.
Ich verstehe nun, wieso.
Denn auf einmal ist alles wieder da - die Angst, der Hass, die Einsamkeit und der Schmerz - und alles was ich will, ist, dass es aufhört.
Ich starre Dr. Dreyler an und versuche, irgendetwas zu sagen, aber es geht nicht. Ein Kloß steckt in meinem Hals fest und hindert mich daran, überhaupt auch nur einen Ton herauszubekommen.
Der Film zieht weiter an mir vorbei. Überall ist das rothaarige Mädchen und es weint und verzweifelt und sieht mich dann wieder mit weit aufgerissenen Augen an.
Zuzusehen wie sie so unbeschreiblich leidet, zerreißt mich innerlich. Ich will aufstehen, zu ihr hinlaufen und sie unbedingt beschützen, in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles wieder gut wird. Aber das kann ich nicht.
Also muss ich zusehen wie sie Qualen erleidet und ich leide mit ihr mit, weil ich sie bin und sie ist ich.
Der schreckliche Schmerz hallt von meiner Brust aus durch jede Faser meines Körpers und ist kaum auszuhalten.
Schließlich bin ich so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr meine Augenlider offenhalten kann und sacke erschöpft auf meinem Stuhl im Schwesternzimmer zusammen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Bewegungen und höre Geräusche, doch sie prallen an mir ab und verteilen sich im Raum.
Ich habe keine Kraft mehr auf irgendetwas zu reagieren.
Mein Herzschlag donnert unerbittlich in meinen Ohren.
Bumm, bumm. Bumm, bumm. Bumm, bumm. Bumm, bumm.
Der Hammer eines Gerichts, das mich schuldig spricht.
Mach, dass es aufhört. Mach, dass es aufhört.
Eine erneute Welle des Schmerzes trägt mich davon, als etwas meine Wange streift. Neue Erinnerungen zucken in mir hoch.
Mein Zimmer. Mein Bett. Meine Tränen.
Ängstliche Schreie hallen durch meinen leeren Kopf und ich höre wieder jemand weinen. Mum? Bist du das?
Meine Atmung beschleunigt sich um ein Vielfaches und in mir zieht sich vor Angst alles zusammen.
Plötzlich zerreißt ein lauter Knall die Luft und mein Herz hört einen unendlichen Augenblick lang auf zu schlagen.
Dann verliere ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir komme, bin ich allein.
Meine Schläfen schmerzen zwar noch, aber wenigstens kann ich mich dieses Mal einigermaßen orientieren.
Es ist dasselbe Zimmer wie vorhin, da bin ich mir sicher.
Zwar sehen Krankenhauszimmer immer ähnlich aus, aber auf meinem Nachttisch stehen dieselben Blumen, die auch vorhin da waren. Rosa Gerbera.
Ich stutze. Meine Lieblingsblumen!
Doch nicht nur die sind wieder da, die Infusionsnadel in meiner Hand ist auch zurückgekehrt.
Und leider nun auch Stück für Stück die Erinnerungen.
Auf einmal fühle ich mich wieder total erschöpft.
Warum kann ich jetzt nicht einfach im Himmel sein, an irgendeinem anderen, besseren Ort?
Was habe ich denn schreckliches getan, dass man mir nicht einmal eine Erlösung von diesem Leid zugesteht?
Ich sinke zurück in die gebleichten Kissen.
Wie soll ich das meiner Familie erklären?
Ich kann doch nie wieder nach Hause zurück!
Die werden mich hassen für das, was ich im Begriff war, ihnen anzutun! Und ganz bestimmt wird mich niemand verstehen.
Leise sammeln sich Tränen der Angst in meinen Augenwinkeln und tropfen sanft in meine offenen Haare.
Bis auf Mum und Minnie würde mich sowieso niemand vermissen, da bin ich mir ganz sicher. Aber sie würden es schaffen.
Sie sind stark, viel stärker als ich und sie haben einander.
Was also hält mich dann bitte so sehr fest, dass es mich nicht gehen lässt?
Plötzlich klopft es an der Tür.
Schnell fahre ich mir mit der Hand über die Augen und richte mich im Bett auf.
»Ja?« Meine Stimme zittert.
Zuerst passiert gar nichts.
Doch dann bewegt sich die Klinke zögernd und ein kleiner Lockenkopf schiebt sich vorsichtig zur Tür herein.
Minnie!
Mein Herz zerfließt in Wärme als ich in ihre großen Augen sehe, die mich verwundert anschauen.
Mit einem Lächeln versuche ich sie dazu zu bewegen, näher zu kommen, doch sie sieht verunsichert aus und bewegt sich nicht vom Fleck.
Gerade als ich sie ansprechen will, schiebt sich meine Mum hinter ihr zur Tür herein.
Mein Herz macht einen Satz. Ich bin so froh sie zu sehen.
Minnie drängt sich sofort an ihre Seite und drückt ihre Hand.
Dann fragt sie leise: »Mummy, ist Lia jetzt ein Gespenst?«
Zum ersten Mal seit Wochen sieht mir Mum wieder direkt in die Augen.
»Nein, Liebling. Lia ist nur ein bisschen krank.«
Als sie das letzte Wort ausspricht, bricht ihre Stimme und ich sehe, wie Tränen in ihre Augen steigen.
»Mum...«
Auch mir versagt die Stimme, denn ich kann denselben Schmerz in ihren Augen sehn, der gerade mein Herz verschlingt.
Sie nickt schnell, zwingt sich zu einem Lächeln und zieht dann Minnie zu dem Stuhl an meinem Bett.
Dann nimmt sie meine Hand.
»Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«
Ich weiß nicht was ich sagen soll.
Wie entschuldigt man sich dafür, dass man ein einziger Fehler geworden ist? Dass man es nicht einmal schafft, die eigenen Eltern glücklich zu machen? Dass man komplett auf ganzer Linie versagt und alle enttäuscht hat?
Wie könnte ich ihr jetzt auch noch zumuten, mir zu verzeihen, dass sie mich immer noch zur Last hat und das wahrscheinlich sogar noch schlimmer als zuvor?
Darum sage ich nichts und drücke nur ihre Hand.
Ich hoffe, sie versteht, was ich damit sagen will.
Minnie starrt mich von Mums Schoß aus an.
Ich kann mir vorstellen, dass sie verwirrt ist.
Sie ist noch zu klein, um das alles hier zu verstehen.
Dazu noch die ganzen piepsenden Geräte und Schläuche, die es bestimmt auch nicht gerade besser machen.
Als Mum meinen Händedruck erwidert, fällt mir auf, wie dünn
ihre Finger geworden sind.
Ich sehe sie an und erst jetzt sehe ich, dass sie generell sehr blass aussieht. Ist sie krank?
Ich runzle die Stirn.
»Mum, alles okay?«
Kaum habe ich diese Frage ausgesprochen, bereue ich sie schon wieder. Wie kann ich das bloß fragen!
Sie sitzt gerade im Krankenhaus am Bett ihres suizidalen Kindes, ihr Mann ist ein rücksichtsloser Mistkerl und sie als quasi alleinerziehende Mutter bekommt das alles ab.
Innerlich reißt es mich in Stücke, als ich sehe wie ihr Schutzschild zerbricht und Tränen ihre Wangen hinunterlaufen. Sie presst die Zähne aufeinander.
»Tut mir leid, Schatz. Ich dachte, ich kann das.«
Aprupt steht sie auf, nimmt Minnie an die Hand und geht zur Tür. Als ich Minnie protestieren höre, kann ich meine Tränen auch nicht mehr halten.
»Mummy, warum gehen wir? Lia braucht uns doch! Wo gehen wir hin? Mummy, was ist los? Lia wird doch wieder gesund! Bitte nicht weinen, Mummy!«
Ihre Rufe entfernen sich und wandeln sich in ein leises Schluchzen.

Das Mädchen, das sein wollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt