2, Im Fadenkreuz

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Als Victor die Augen aufschlug, merkte er erst, wie früh er eingeschlafen war und wie spät er nun aufwachte. Toni war irgendwann verschwunden, auf die Frage, wer eigentlich "uns" oder "Wir" sei, hatte er immer nur geantwortet, dass Victor das schon noch sehen würde. Eigentlich wollte er nicht aufstehen, er hatte eh nicht vor, das Haus zu verlassen. Auch, wenn er sich immer noch nicht sicher war, ob Toni Pirosa wahnsinnig, besoffen, unter Drogen oder alles drei gleichzeitig gewesen war, die Beweise stimmten mit der Geschichte perfekt über ein. Er würde eine Woche warten, falls bis dahin nichts passierte, würde er es in den Hintergrund rücken und seinem normalen Studenten-Leben nachgehen. Als er letztendlich schweren Herzens die Decke beiseite schlug, stellte er fest, dass er in seinen Klamotten geschlafen hatte. Er rollte sich aus dem Bett und blieb noch kurz auf dem Boden liegen, wie oft auch. Dabei fiel ihm ein Zettel ins Auge, der neben ihm lag.
Es war hektische Schrift, mit einem Filzstift notiert, der noch daneben lag.
Darauf stand unleserlich:
"Du kennst mich nicht. Ich habe dich bedroht. Du hast Angst vor mir und willst keinen Ärger. - T.P."
Er fragte sich schon gar nicht mehr, wie Toni nocheinmal in seine Wohnung gekommen war, er nahm einfach den Zettel, laß ihn sich noch ein Paar mal durch, faltete ihn so stark es ging und legte ihn unter seine Nachtischlampe. Dort verstaute er alles wichtige, und der Zettel wirkte genau so: wichtig.
Trotz allem machte Victor sich auf den Weg ins Bad, wo er sich eine neue Jeans anzog, in einen Nintendo-Pulli schlüpfte und seine Handschuhe auszog. Die Haare beachtete er kaum, er Band sie einfach zu einem Zopf, was er selten machte, aber gerade war er für mehr Einsatz einfach zu faul. So ging er in die Küche, wo immer noch seine Tüte stand, und nahm sich einen Energy und einen Apfel heraus. Gerade wollte er die Dose öffnen, als er hinter sich eine Stimme hörte.
"Eine Bewegung, und du bist tot."
Sofort ließ Victor beides fallen und rührte sich nicht mehr. Die Stimme kannte er nicht.
Ein Pistolenlauf drückte sich in seinen Rücken, was ihn unweigerlich ein Stück weiter zu der Anrichte zu weichen. Dann ging plötzlich alles viel zu schnell für ihn. Eine Hand packte ihn im Gesicht, drückte ihm weißen, feuchten Stoff über Mund und Nase und packte ihn am linken Arm. Instinktiv trat Victor nach ihm, erwischte ihn auch etwas, drehte sich um und schlug nach dem Angreifer, doch zu spät bekam er erst die Hand mit dem Tuch von seinem Mund, die Welt wurde langsam und Victor krachte zu Boden.

Der Raum in dem er zu sich kam, war dunkel. Zu dunkel. Victor hasste finstere Räume.
"Hallo?" Seine Stimme klang hoch und gepresst, vor Panik.
"Ist irgendjemand hier?" Keine Antwort.
"Bitte, ich habe Angst vor Dunkelheit!" Immer noch nichts.
"Lassen sie mich hier raus!"
Nun hörte er Leute, die sich regten und etwas murmelten.
"Das geht leider nicht."
"Wer sind sie, was wollen sie von mir?!"
Keine Antwort.
"Wenn sie mich schon entführen und meiner Freiheit berauben, will ich auch den verdammten Grund wissen!"
Ein Klicken, das Licht ging an.
Victor saß auf einem unbequemen Stuhl, seine Arme waren hinter die Lehne gekettet, und egal, was er tat, sie regten sich nicht. Direkt vor ihm stand ein Tisch, weiß und künstlich, und auf der anderen Seite dieses Tisches saß jemand. Er hatte kurze, braune Haare, die nach oben gegelt waren, trug ein schwarzes Hemd mit nach oben gekrempelten Ärmel und einer roten Fliege. Auf dem Hemd zeichneten sich dunkle Hosenträger ab. Der Raum war verhältnismäßig klein, aber nun strahlend hell beleuchtet, weiße Wände, weiße Decke, weißer Boden. Im Hintergrund an einer Wand standen 5 Männer, alle in der gleichen Haltung. Einer von ihnen hatte lilane Haare, ein Undercut, die einzig langen Haare waren ziemlich lang, länger als Victors. Der Mann hatte sie genau wie er zu einem Dutt gebunden.
"Wer sind sie?"
"Hat sie nicht zu interessieren."
"Sie haben mich gefangen genommen! Und wie das mich zu interessieren hat!" Victor selbst war über seinen Mut erstaunt, in dieser Situation keine Dreitigkeiten zu dulden. "Das werden sie schon noch erfahren. Wir sind hier, weil wir ihnen einige Fragen stellen müssen."
"Und sie hätten mich nicht einfach anrufen können?!"
Der Mann mit der Fliege ging nicht darauf ein. Stattdessen kamen 2 von den Männern nach vorne, der mit den lila Haaren und ein normal aussehender.
Abwechselnd zeigten sie ihm Bilder, auf denen er und Toni zu sehen waren, durch den Regen ganz unscharf.
"Sind das sie?" Victor schluckte. "Ja, das bin ich."
"Wer ist der Mann neben ihnen?"
Eine Vielzahl von Antworten schoss durch sein Gehirn. Doch eine blinkte irgendwo in seiner Erinnerung auf. Und er wusste, dass er diese nehmen musste.
"Ich... Ich kenne ihn nicht. Der Mann hat mich bedroht, ich habe Angst vor ihm. Hören sie, ich will keinen Ärger."
"Hmm... in ordnung. Eigentlich lügt der Lügendetektor nicht, alles andere wäre wiedersprüchlich. Hören sie, dieser Mann bereitet seit einiger Zeit Ärger. Wenn er sie nochmal heimsucht, rufen sie die Polizei. Er tut nichts gutes."
Eingeschüchtert nickte er. Er fragte sich trotzdem, wie zum Teufel der Mann einen ganzen Lügendetektor versteckt hatte, und warum er nicht Alarm geschlagen hatte.
"Es tut uns ausgesprochen Leid, es muss eine Verwechslung vorliegen, wir dachten, sie würden mit diesem Pirosa zusammenarbeiten. Verzeihen sie die Umstände."
Einer der Männer mit schwarzer Wuschel-Frisur trat vor und löste mit Hilfe eines kleinen Schlüssels die Handschellen. Instinktiv rieb sich Victor die schmerzenden Handgelenke.
"Wie jetzt? Sie lassen mich einfach gehen? Nachdem sie mich mit dem Tod bedroht und in einem Raum an einen Stuhl gekettet haben?"
Selbstgefällig schmunzelnd runzelte er die Stirn. "Gäbe es einen Grund, das nicht zu tun?"
Den gäbe es, sie konnten ja nicht davon ausgehen, dass Victor nicht zur Polizei gehen würde, oder er sie verklagen würde - wer auch immer sie waren.
"Nein, ganz und gar nicht."
Da war es. Ein zucken im Augenwinkel des Mannes mit der Fliege. Eine unscheinbare Geste, sehr leicht zu übersehen, aber sie sprach Bände. Sie wussten davon.
"Also... darf ich gehen?"
"Natürlich. Tun sie sich keinen Zwang an."
Die Männer im Hintergrund ließen ihn nicht aus den Augen. Unsicher auf den Beinen stand Victor auf.
"Ihr fünf: Begleitet unseren Gast nach drausen."
Wäre ihm nicht schon längst alles aufgefallen, hätte Victor spätestens jetzt begriffen, was gespielt wurde. Einer der Männer hielt die Tür offen, einer nahm ihn am Oberarm, ein anderer stellte sich draußen bereit und einer positionierte sich hinter ihm. Der letzte bewegte sich erst spät von seinem Platz weg.
Die Gänge waren genauso weiß wie der Raum. Und über all grelles, künstliches Licht. Es hatte fast schon den Anschein, als wäre Victor in einem Labor, oder einem eigenartigen Krankenhaus.
Die Männer umschlossen ihn von allen Seiten, als sie die weißen Wände entlang gingen. Hin und wieder bogen sie ab.
Victor hatte enorme Angst, er wusste nicht, wohin sie ihn brachten, doch anmerken ließ er sich nichts.
Nach einigen Minuten standen sie vor einer - natürlich - weißen Tür, darauf ein Schild, welches aber mit irgendetwas klebrigem abgedeckt war. Unlesbar. Der lilahaarige machte auf, der, der normal aussah, schubste ihn hinein. Dann wurde die Tür verriegelt. An der Seite des Raumes war eine Glasscheibe, ein Fenster, das auf den Gang hinausführte.
Vorsichtig klopfte er daran. "Hallo?"
Einer der Männer redete unruhig mit den anderen, dann verdrehte einer die Augen und legte einen Hebel um. Ein Zischen erklang. Victor begann zu husten, er ließ sich auf die Knie fallen und griff sich an den Hals. Panisch hämmerte er gegen die Scheibe, als seine Sicht verschwamm.
Die Männer draußen redeten nur miteinander, dann wurden sie plötzlich still, einige zogen die Augenbrauen zusammen. Dann trat der lila-haarige plötzlich mit einem Roundhouse-Kick sein Gegenüber von den Füßen, der mit der Wuschelfrisur - erst jetzt fiel ihm auf, wie klein er war - schlug einem anderen ins Gesichtt und drückte ihn gegen die Wand. Er bearbeitete dessen Kopf noch kurz, dann sackte dieser benommen zu Boden. Der letzte konnte gar nicht schnell genug ragieren, als er von ihnen gepackt wurde, gegen die Wand geschlagen wurde und auf dem Boden getreten, bis er keine Probleme mehr machte. Alles innerhalb von Sekunden. Victor versuchte, sich an der Glaswand festzuhalten und hochzukommen, doch er rutschte daran hinunter, bis er zusammengekrümmt auf dem Boden lag und hektisch nach Luft schnappte.
Der mit den lila Haaren rannte zur Tür und rüttelte daran, als sie nich aufging, rief er etwas zu seinem Freund, der begann, die Taschen des normal aussehenden zu durchsuchen. Als er nicht fand, wonach er suchte - wahrscheinlich ein Schlüssel - begann der andere, sich gegen die Scheibe zu werfen und darauf einzutreten.
Victor wurde langsam aber sicher schwarz vor Augen, er bekam keine Luft mehr. Das Gas hatte in der Zwischenzeit den gesamten Raum in leichten Nebel gehüllt. Über sich hörte er das dumpfe Pochen, bis letztendlich daraus ein Knacksen wurde und zu guter letzt in einem Klirren endete. Jemand packte ihn, zerrte ihn auf die Füße und schubste ihn aus dem Raum. Victor schrammte sich an dem zersplitterten Glas die Wange und seine beiden Hände auf. Draußen nahm der andere seinen Arm und zog ihn von der Scheibe weg. Er hustete und stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinem Helfer ab. Nach kurzer Zeit wurde seine Sicht wieder klarer.
Er hörte die beiden Reden.
"Unsere Tarnung kriegen wir jetzt sicher nicht mehr zurück. Wir müssen hier raus, eine zerspringende Scheibe ist nicht gerade leise!"
"Ohne Killian geh ich hier nicht weg! Und ohne Jo erst recht nicht."
"Und wie sollen wir das anstellen Sev? Wir haben drei von Flyse' Elite krankenhausreif geschlagen!"
Kurz Stille, dann sprach wieder der mit der schwarzen Wuschel-Frisur - anscheinend Sev.
"Du könntest mich irgendwo anketten und mir ein Paar Schläge verpassen."
"Ich kann dir doch nicht ins Gesicht treten! Hast du ne Ahnung, wie weh das tut?"
"Komm schon, ich hab auch die Aufnahme-Prüfung mit nem Schnupfen bestanden. Als Bester."
Die beiden ließen Victor kurz an eine Wand gelehnt stehen, dann holte der lila-haarige aus seiner Tasche ein Paar Handschellen und legte sie seinem Freund an.
"Tut mir Leid, Sev.", meinte er mit verzogenem Gesicht, dann trat er ihm einmal mit Schwung ins Gesicht und knockte ihn somit aus. Bevor er umfiel, fing er ihn auf und legte ihn vorsichtig auf dem Boden ab.
Dann drehte er sich um und widmete sich Victor.
"Kannst du mich hören?"
Mit von dem Gas roten Augen nickte er.
"Okay. Ich bring uns hier raus. Es ist alles in Ordnung, ich steh auf deiner Seite. Kannst du rennen?"
"Wer bist du?"
"Keine Zeit dafür."
"Gehörst du zu Toni?"
Der Mann sah ihn perplex an, dann nickte er.
"Ja, ich kann rennen."
Kurz nickte sein Gegenüber, dann blickte er sich um.
"Immer mir hinterher."
Er rannte los, Victor hinterher. Die Gänge sahen immer noch alle gleich aus, wie sein Befreier sich hier zurechtfinden konnte, war ihm ein Rätsel. Vor einer Ecke blieb er stehen und schielte an ihr vorbei. Mit einem Hand Zeichen befahl er ihm, zu warten, bevor Er selbst schlich weiter und ließ Victor alleine. Er hörte einen kurzen Schrei und jemanden, der zu Boden fiel, dann sah er wieder den Mann, der ihn zu sich lotste. Auf dem Boden lag eine Person, die Victor nicht kannte. Sie bewegte sich nicht.
Kurz danach rannten sie weiter. Irgendwann kamen sie zu einer mit "Notausgang" makierten Tür, der Mann riss sie auf und ohne den Alarm abzuwarten, der ohne Verzögerung das komplette Gebäude alarmierte, rannten sie die Metall Treppe hinunter, die an der Außenseite des Hauses nach unten führte. Victor beobachtete seinen Vordermann, wie er sein Handy herauszog, hektisch eine Nummer tippte und es sich ans Ohr hielt.
"Hallo? Patrick? Ich bin aufgeflogen. Wir haben ein Target gerettet, er meint, er kennt Toni. Wir brauchen ne Abholung! Schnell!"

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