Henrietta Stelden

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Ich kam damals auf eine neue Schule. Dort lernte ich die meisten Menschen meiner Liste kennen. Henrietta Stelden war Lehrerin an dieser Schule. Um genauer zu sagen, meine Klassenlehrerin. Henrietta war um einiges älter als die anderen Lehrer der Schule. Dennoch hatte sie etwas erfrischendes an sich. Sie trug ziemlich ausgeflippte Kleidung und ich empfand dies stets als ziemlich sympathisch. Ich mochte es, wenn Menschen aus der typischen Mode herausfielen und ihr eigenes Ding machten.

Die Klasse wählte mich zur Klassensprecherin, ich war relativ beliebt. Auch bei den Lehrern war ich hoch angesehen. Ich war zuverlässig, hatte gute Noten und war vernünftiger als die meisten Schüler. So kam es, dass Henrietta mich bat, auf Marc zu achten. Marc ging in meine Klasse, schrieb eine  Fünf nach der anderen und stellte dauernd etwas an. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine Abmahnung von der Schule bekommen. Ihr denkt jetzt sicher, dass Marc und ich nicht zusammenpassten, dass wir zu verschieden seien.
Falsch gedacht.
Marc und ich wurden unzertrennlich.
Es kostete mich zunächst viel Aufwand, aber ich wollte Henrietta nicht enttäuschen. Doch irgendwann ging es wie von selbst. Als würde man sich die ganze Zeit angestrengt gegen eine Tür werfen, die sich dann plötzlich öffnet, als man sie gerade ganz sanft aufdrückt. Dies geschah, weil ich anfing, Marc zu mögen. Und er begann, mich zu mögen. Doch zu Marc kommen wir an anderer Stelle...

Zurück zu Henrietta... Sie war meine Lehrerin und wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander. So kam es, dass sie mir einiges durchgingen ließ. Ich verweigerte im Unterricht oft die Mitarbeit. Henrietta gab mir dennoch keine schlechtere Note als "gut", da sie wusste, dass ich es könnte, wenn ich wollte. Ich wollte aber nicht.
Henrietta wollte dennoch nicht aufgeben und so wurde aus unserer einst so guten Beziehung eine Art Machtkampf. Es war anstrengend und ich glaube, sie begann, mich zu hassen, weil ich einfach nicht so funktionierte, wie sie es gerne hätte. Ich hingegen mochte sie weiterhin. Und hätte ich es gekonnt, hätte ich die Arbeit in ihrem Unterricht nicht verweigert. Aber ich konnte nicht, ich war wie gelähmt und war innerlich vollkommen blockiert.

Wir waren auf einer Klassenfahrt, als es zum ersten Mal passierte. Mir wurde schwindelig, sehr schwindelig. Mein Körper begann zu zittern und ich spürte, wie ich die Kontrolle verlor und zu Boden ging. Als ich wieder zu mir kam, sah ich Henriettas angsterfülltes Gesicht vor mir, ich hörte wie Menschen herumrannten und eine Männerstimme dicht bei mir fragte:"Hat sie Drogen genommen? Ist sie schwanger?" "Nein", antwortete da die Stimme eines Mädchens aus meiner Klasse schüchtern. Der Mann stellte weiterhin Fragen über mich, bis ich die Augen öffnete und er anfing, mich selbst mit Fragen zu löchern. Ich antwortete ihm so gut ich konnte, dann wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Der Mann war Notarzt und ich muss sagen, er war mir sehr unsympathisch. Doch in meiner Verfassung konnte ich natürlich nichts dagegen unternehmen und musste mich ins Krankenhaus bringen lassen. Dort angekommen, untersuchte man mich kurz und teilte mir mit, dass ich am nächsten Tag einige Untersuchungen hatte und besser schlafen solle. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie spät es bereits war, aber als ich aus dem Fenster schaute, stellte ich verwundert fest, dass es tiefste Nacht war.
Ich weiß noch, wie ich mich dem Fenster abwendete und stattdessen zur Tür schaute. Wie auf ein Zeichen, kam Henrietta herein. Sie warf die Tür auf und stürzte zu mir an mein Krankenbett. Henrietta schloss mich in die Arme und flüsterte:"Ich hatte so eine verdammte Angst um dich." Dann wich sie etwas von mir zurück, sodass sie mir ins Gesicht sah. Ihr Gesicht sah anders aus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Und was war das für ein Geruch?
Alkohol.

Ich fragte mit einem vorwurfsvollen Unterton: "Sind sie etwa alkoholisiert gefahren?" Natürlich war ich froh, dass sie da war, aber nicht, wenn sie sich dafür in Gefahr gebracht hat und unter Alkoholeinfluss gefahren ist. "Nein, was redest du denn da? Du bist ja ganz durcheinander", sagte sie spöttisch. "Du solltest schlafen, ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist. Die anderen Lehrer kommen auch eine Weile ohne mich mit deinen Mitschülern zurecht" sagte Henrietta und griff dabei nach meiner Hand. Sie hielt meine Hand und wartete. Ich schloss die Augen, doch ich konnte nicht einschlafen. Deshalb tat ich so, als würde ich einschlafen. Ich verlangsamte meine Atmung und irgendwann ließ Henrietta meine Hand vorsichtig los. Ich hörte wie sie in ihrer Tasche wühlte. Ich riskierte es und öffnete die Augen zu einem Spalt. Zwischen meinen Wimpern hindurch sah ich, wie Henrietta eine Flasche aus ihrer Tasche zog. "Trinken Sie etwa Alkohol" fragte ich, während ich mich aufsetzte. Henrietta erschrak und ließ die Flasche schnell in ihrer Tasche verschwinden. "Mensch, Emma, ich dachte, du schläfst. Warum erschreckst du mich denn so? Ich habe nichts getrunken, das hast du dir eingebildet, bestimmt die Folge von deinem Ohnmachtsanfall. Ich fahre jetzt zurück, aber ich komme dich morgen besuchen" sagte sie in einem hastigen Redeschwall, während sie mich kurz und hastig an sich drückte und dann aus dem Zimmer lief. Ich war so perplex, dass ich nichts darauf erwiderte, doch das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass Henrietta Alkoholikerin war.

Und dies konnte sie in Zukunft immer schlechter vor mir verbergen. Irgendwann gestand sie es mir sogar. Ich wollte ihr helfen. Ich versprach ihr, es niemandem zu sagen. Ich wünschte, ich hätte es jemandem gesagt, aber damals sah ich das leider nicht so. Auch wenn es Gerüchte unter den Schülern gab, dass Henrietta Alkoholikerin war, kam den anderen Lehrern der Schule dieser Verdacht wohl nie und falls doch, behielten sie es gekonnt für sich.

Meine Ohnmachtsanfälle häuften sich und ich verlor meine Motivation für die Schule und generell für alles. Meinen Noten merkte man dies nicht an, umso überraschter waren die Lehrer, als ich vor dem Lehrerzimmer stand und mich verabschiedete. Ich meldete mich von der Schule ab und ging ohne ein weiteres Wort an meine Mitschüler. Ich konnte Ihnen einfach nicht gegenübertreten ohne ihnen eine klare, nachvollziehbare Antwort auf ein "Warum" liefern zu können. Ich bildete mir zu diesem Zeitpunkt ein, den Kontakt zu Henrietta halten zu können. Doch ich irrte mich gewaltig. Als ich mich abmeldete, verabschiedete sie sich nichtmals von mir. Als sie hörte, warum ich am Lehrerzimmer war, nahm sie ihre Tasche und stürmte davon. Eine andere Lehrerin schaute mich verwundert an und ich war dankbar, dass sie keine Fragen  stellte. Einige Tage nach meiner Anmeldung sendete ich Henrietta eine E-Mail. Bis heute kam keine Antwort von ihr. Von einer anderen Lehrerin weiß ich jedoch, dass Henrietta sich von mir im Stich gelassen fühlte. Ich fühlte mich machtlos, da sie meine Nachrichten ignorierte. Es dauerte Monate bis ich anfing, loszulassen.

In meinen Gedanken nur duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt