Ich bin ja schon groß

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Die Eisenstange ist rau und kühl unter meinen Händen. Ob sie sich an einem heißen Sommertag auch so unbeteiligt anfühlt, so kalt, so trist? Vermutlich werde ich es nie erfahren, denn es regnet. Die kleinen Wassertropfen zerspringen auf meiner gebräunten Haut, ein letzter Nachhall des Lebens, das nun dem Herbst weicht. Ein langsames, aber sicheres Sterben der Welt, in der ich aufgewachsen bin, deren Kind ich bin - noch.

Unter dem Geländer ist der Fluss, reißend schnell fließt er dahin, als wäre er selbst die Zeit, die zwischen unseren Fingern hindurch rinnt wie die Sandkörner einer Sanduhr.

Ich hebe meinen Blick zum Himmel. Was heißt es, wenn er grau und trist ist? Bedeutet das etwas für die Sterbenden des Moments? Die Wolken hängen tief, sie berühren die Baumkronen der Tannen, die am Ufer des Flusses stehen. Ich bemerke ein Mädchen, das zwischen den Stämmen herumrennt. Sein rotweißes Sommerkleid flattert ebenso im Wind wie sein blondes Haar und ich frage mich, ob es nicht friert. Es ist ebenfalls ein Kind dieser Welt - und ich beneide sie. Ich beneide sie um die Röte ihrer Wangen, um das Federn ihrer Schritte, um das Leben, das hier irgendwo auf sie wartet.

Ich fahre mit dem Zeigefinger über den Rost auf dem Geländer; und als ich wieder nach unten blicke, ist sie fort. Vermutlich ist sie gegangen, um in die Arme ihrer Eltern zu fallen, bevor sie mit ihren Geschwistern Verstecken in der Wärme ihres Hauses spielt. Das erinnert mich daran, dass ich nie Geschwister hatte. Dafür besaß ich vermutlich mehr Plüschtiere und Kostüme als irgendjemand sonst, aber die Einsamkeit haben sie nicht vertrieben.

Schritte. Ich drehe mich um und unsere Blicke treffen sich. Ihre Augen sind azurblau, aber traurig; und ihr blondes Haar umsäumt ihr Gesicht. Sie nickt ganz kurz und ihr Blick fragt: Und, was hat dich hierher getrieben? Wie alt ist sie? Elf, zwölf? Sie wendet sich ab und schwingt ein Bein über das Geländer, noch eins, bis sie sich nur noch mit den Händen festhält. Dann dreht sie sich zu mir und ich fange das kleine rote Buch auf, das sie mir zu wirft. Dann springt sie. Ich sehe, wie ihr Körper auf die Oberfläche des Flusses trifft. Warum hat sie das getan?

Ich klappe das Buch auf. Die ersten Seiten fehlen, sie sind ausgerissen worden, aber auf der sechsten steht etwas, ordentlich aufgeschrieben. Ich beginne zu lesen.

Was, wenn sich dies alles gar nicht lohnt? Und was, wenn das Leid dieser Welt ist, dass sie gar keines hat und nicht ihr Sterben, weil es Schicksal ist, zu sterben? Hanna weint wieder, jede Nacht tut sie das, bis sie schläft. Ich will auch weinen, aber das ist nicht meine Aufgabe, ich muss Hanna trösten, muss stark sein. Ich bin ja schon groß...

Ich starre auf das Papier vor mir, blättere vor und zurück, nein, mehr steht da nicht. Also warum?

Der Regen hat aufgehört. Unter mir fließt der Fluss unverändert schnell dahin, unbeteiligt, kalt. Aber er ist wild - und frei. Ob sie es auch ist, jetzt, wo ihr Leben ein Ende hat?

Am Himmel erscheinen einige blasse Sterne, weit entfernt. Ich habe mir oft gewünscht, Flügel zu haben, um einfach alles hinter mir zu lassen. Flügel besitzen, frei sein. Fliegen.

Ich lächle. Nein, heute ist nicht mein letzter Tag. Vielleicht werde ich auch noch erleben, wie die Eisenstange warm wird im Sommer, sich erhitzt.

Noch nicht.

Als ich gehe, beginnt es zu regnen.


© onatriptonowhere, 01. 09. 2014

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