Nach der Freiheit

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Ihr ganzes Leben sucht eine Frau nach der Freiheit. Sobald sie verstanden hat, was der Begriff bedeutet, streckt sie die Hände danach aus und reißt die Augen auf, hofft, am Horizont den ersten Fetzen Freiheit auftauchen zu sehen. Überzeugt davon, dass dieser Fetzen – noch nicht zu sehen – dort, an der Ecke des Horizonts auf sie wartet, läuft sie immer schneller in diese Richtung, bis sie rennt, die Augen immerfort dorthin gerichtet, wo sie jeden Moment die Freiheit zu sehen erwartet. Also wird sie immer und immer schneller, in der Hoffnung, abzuheben, wenn sie die Freiheit gefunden hat.

Alles Gut, was die Frau besitzt, wirft sie nach und nach ab, denn es behindert sie nur, macht sie schwerer. Wenn nichts mehr an ihr, um ihr ist, ist ihr nichts mehr im Weg.

Aber mit der Zeit wird ihr Atem rasselnd und ihre Beine müde und ihre Gelenke schmerzen bei jedem Schritt. Doch die Frau will nicht aufgeben und so müht sie sich weiter, den Weg entlang, den sie vor sich sieht. Inzwischen ist zu ihrem Mut und ihrer Zuversicht auch Verzweiflung hinzugekommen. Die treibt sie weiter, immer weiter, näher zum Horizont, immer weiter, immer weiter.

Manchmal glaubt sie aus dem Augenwinkel Gassen von ihrem Weg abzweigen zu sehen, aber nie dreht sie den Kopf. Sie hat Angst, den Moment zu verpassen, wenn die Freiheit endlich am Horizont erscheint.

Für sie gibt es nur vorne, nur weiter, sie muss weiter, immer weiter, immer weiter.

Doch inzwischen ist sie eine alte Frau, und bei jedem Schritt gräbt sich die Zeit in ihre Haut, macht sie langsamer. Sie bekommt Panik, denn vielleicht kann sie die Freiheit nicht mehr finden, oder ist zu schwach, um die Flügel zu benutzen, die sie ihr schenken wird.

Während der Jahre wird sie wütend und irrational, verflucht ihre Beine, die nicht schnell genug laufen können, und ihre Augen, die, wenn sie schärfer sähen, die Freiheit längst entdeckt hätten, dessen ist sie sich sicher.

Entgegen ihrer Wünsche werden ihre Augen immer schwächer. Schneller, schneller, weiter, weiter. Ihre Lungen bekommen kaum noch genug Luft, und sie muss anhalten.

In der Pause entdecken ihre verendenden Sinne hinter ihr endlich die Freiheit, nach der sie gesucht hat.

Doch als sie sich umdreht, ist sie vom Angesicht der Freiheit überrascht, denn es ist sie selbst. Die Frau glaubt, in einen Spiegel zu blicken, bis sie erkennt, dass vor ihr keine Frau, sondern ein Mädchen steht, mit großen, unwissenden Augen und einem sorglosen Mund, keine Zeichen der Zeit auf ihrer Haut. Auf ihrem Rücken erspäht die Frau die Flügel, die sie immer wollte.

„Aber ich wusste doch noch gar nicht...", will sie sagen, aber ihre Stimme ist ein verstummendes Krächzen. Erschrocken stellt sie fest, dass sie an der Schwelle des Todes steht, der Abgrund tut sich hinter ihr auf, auf dem Weg, auf dem sie lief.

Und aus dem Augenwinkel erkennt sie endlich die Flügel, die aus ihrem Rücken wachsen. Sie sind zerfetzt und Federn schweben langsam auf den Boden, und sie sieht, dass sie eine mit jedem Schritt verloren hat, den sie tat.

„Du hättest nur stehen bleiben müssen", sagt das Mädchen. „So aber hast du sie zerrissen."


© onatriptonowhere, 11.06.2017

Diese Parabel hier sollte ich für den Deutschunterricht schreiben, als wir Kafkas "Der Prozess" gelesen haben. Dementsprechend hangelt sich das Ganze etwas an Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" entlang.

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