Kapitel 1

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Mein Atem geht stoßweise und unregelmäßig. Die Kälte kriecht unter meine Kleidung, erfüllt meinen ganzen Körper. Ich schlage die Augen auf. Zunächst sehe ich bloß Muster und Farben, fast werde ich panisch. Doch als sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben, sehe ich es. Ich sitze auf einem Stuhl, die Hände sind mir nach hinten gebunden. Meine Kleidung ist die gleiche, die ich auch auf der Party getragen habe, nur stinkt meine Jacke nach Schweiß und auf dem hellen Hoodie kann ich Flecken ausmachen. Ich ordne sie irgendwelchen Mischgetränken zu. Ich hebe den Kopf. Ich habe nicht die reinste Ahnung wo ich bin. Nur eins weiß ich: Hier gefällt es mir nicht. Die kalten, weißen Steinwände, die robust aussehende Holztür. Keine Einrichtung. Nur das nervige Brummen der Belüftung. Wie zur Hölle bin ich hier hergekommen? Warum bin ich gefesselt? Wo bin ich? Die Fragen springen in meinem Schädel herum, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Zunge ist so trocken wie Sandpapier, meine Kehle brennt. Ich brauche Wasser. Mein Magen knurrt so heftig, dass ich das Gefühl nicht loswerde, dass er sich zusammenzieht vor Hunger. Mir wird ganz schwindelig. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich will nur von hier weg. Nach Hause. Erschöpft senke ich den Kopf, alle meine Glieder schmerzen von der misslichen Position. Meine beschränkte Bewegungsfreiheit lässt immerhin zu, dass ich meine Beine ausstrecken kann. Meine Muskeln schreien nach Schlaf, doch ich will erst wissen, warum ich hier bin, wer mich gefangen hält. Plötzlich knackt es unnatürlich über mir. Mein Kopf schießt in die Höhe, ich lege ihn in den Nacken. Lautsprecher. Die hatte ich noch nicht registriert. Mich durchfährt ein Schauer. Es knackst wieder. Irgendwann kann ich ein tiefes, verwaschenes Lachen ausmachen. Ein Mann. Eindeutig. Ein Pädophiler? Ein Vergewaltiger? Ein Mörder? Ich gehe vom schlimmsten aus. Die erste Träne bahnt sich ihren Weg und kullert an meiner Wange entlang. "Wer bist du?!", schreie ich. Meine Stimme bebt. "Ha, offenbar bist du wach, Kleine", meint die Stimme. Tief und rau, fast schon beruhigend. "Ich will wissen, warum du mich hier gefangen hältst. Zeig dich!", fordere ich ihn heraus. Ich atme stoßhaft ein, erschrocken, als die Stimme ohne jegliche Zeichen der Vorwarnung brüllt "Du hältst die Fresse und gehorchst mir!" Er klingt sehr aggressiv. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich ihn persönlich sehen will. Ich schweige und knirsche mit den Zähnen. Halb aus Angst, halb aus Wut.

Mit einer plötzlich zuckersüßen Stimme sagt er: "Ich werde jetzt kommen." Ich muss mich zwingen, weiterzuatmen. Mein Puls schießt schlagartig in die Höhe, ich bekomme Wahnsinnsangst. Immer mehr Tränen fließen mein Gesicht herunter. Langsam öffnet sich die Holztür. Aufgrund des spärlichen Lichtes, was eine beinahe ausgebrannte Glühbirne spendet, erkenne ich zunächst nichts als einen Schatten. Langsam tritt er ins Licht. Oberkörperfrei, zerfetzte, schwarze Jeans. Barfuß. Seine blau gefärbten Haare fallen ihm in unordentlichen Strähnen auf die Stirn, er ist tätowiert. Sehr. Es beginnt in seinem Gesicht. Sein Hals ist voller Zeichen, ebenso seine beiden Arme. Am auffälligsten sind die gekreuzten Schwerter unter seinem Bauchnabel. Er lässt seine üppigen Armmuskeln spielen und wirft mir aus seinen diamantblauen Augen dunkle Blicke zu. Er grinst. Nicht aus Sympathie, er grinst wie ein Psychopath. Zumindest stelle ich mir so einen Psychopathen vor. Meine Schweißdrüsen geben ihr bestes, ich keuche laut. In einer Hand, die mit einem Anker geschmückt ist, hält er ein kleines Messer. Seine scharfe Klinge blitzt im Licht. Er leckt sich mit seiner Zunge über die Zähne und lacht. "Ich bin T", haucht er kaum hörbar, "und ich werde dich zerfetzen."

Ich bekomme Panik. "Was willst du von mir? Warum tust du das?", schluchze ich, meine Nasenlöcher weiten sich.

"Warum ich das tue?" Er geht auf mich zu, greift das Messer fester. Als er nur einen halben Meter vor mir steht, beugt er sich zu mir herunter. Ich schaue in seine klaren Augen, sie sprühen blaue Funken. "Aus reiner Langeweile." Er beißt sich auf die Lippe. Trotz allen Umständen muss ich mir eingestehen, dass er sehr gut aussieht. "Das kannst du nicht machen!", kreische ich hysterisch. Er wirbelt herum, holt aus. Das Messer verfehlt meinen Kopf nur um einige Zentimeter. Ich atme auf. Er zieht es aus der Wand hinter mir. "Halt deine verfickte Fresse, oder ich schneide sie dir heraus", flüstert er lächelnd. Er verschränkt die Arme hinter seinem Rücken und schaut auf mich herunter. Ich puste mir eine Strähne meines Haares aus dem Gesicht. Unerwartet holt er mit der bloßen Faust aus und boxt mich gegen meine Schläfe. Kurz ist alles schwarz um mich herum, dann kommt der Schmerz. Er zieht sich von meiner Schläfe auf die andere Seite des Kopfes. Mein Schädel wird heiß und brennt. Ich öffne die Augen und registriere, dass ich mitsamt Stuhl umgekippt bin. Ich sehe nur verschwommen und will mich nicht bewegen. Ich sehe, wie sich T auf mich zubewegt. Ich schließe die Augen, mache mich bereit für den nächsten Schlag. Doch es kommt keiner. Ich öffne sie vorsichtig. Scheinbar war ich weggetreten. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich will den Kopf heben, doch ein stechender Schmerz durchzuckt mich bei der Bewegung. Augenblicklich wird mir schwindelig. T kann ich nicht mehr sehen. Ich schließe die Augen und überlasse mich der Welt des Schlafes, die unerbittlich nach mir schreit.

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