Kapitel 2

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Ich blinzele. Es dauert eine Weile, bis ich mich erinnern kann, wo ich bin. Ich hebe meinen Kopf. Mir wird zwar schwindelig, aber nicht mehr so sehr wie davor. Ich habe keinerlei Zeitgefühl. Ist es Morgen? Ist es Abend? Ist es Nacht? Ich habe nicht mal ein Fenster zur Orientierung. Ich merke, dass ich mich bewegen kann, was erstens heißt, dass es mir besser geht, zweitens, dass T mich losgebunden haben muss. Meine Kehle dürstet es nach frischem Wasser. Ich hieve mich hoch und sehe alles doppelt. Ich stütze mich auf dem Stuhl auf. In der Mitte des Raumes steht ein Teller mit ein paar Scheiben altem Brot und eine Flasche Wasser. Ich stürze los und falle augenblicklich hin. Mit der Bewegung sollte ich es langsam angehen lassen. Es tut gut, seine Arme wieder benutzen zu können. Ich öffne die Flasche und trinke gierig in großen Schlücken. Es tut gut, wie es meine Kehle herunterfließt und meinen Geist weckt. Dann reiße ich große Stücke des Brotes ab und schlinge sie herunter. Noch nie habe ich altes Brot als so köstlich empfunden. Als ich fertig bin, taumele ich zu der Holztür und rüttele am Knauf. Keine Chance. Abgeschlossen.
"Wo bist du?", rufe ich. Ich muss mich hinsetzen, ich habe Angst, dass ich zusammenklappe. Minuten vergehen, in denen ich mich ausruhe.
"Hier.", ertönt plötzlich eine tiefe Stimme. Ich schrecke hoch. T steht grinsend vor mir, seine Augen sehen wirr aus. Er ist anders als gestern. "Ich habe deine Eltern umgebracht, Val. Sie haben geschrien wie Babys. Lächerlich.", meint er und lächelt mich herablassend an. Sein Kopf zuckt. Seine Bewegungen sehen unkontrolliert aus. "Das ist nicht wahr.", murmele ich mehr zu mir selbst. Das Bild von ihren blutüberströmten und zerkleinerten Leichen bekomme ich nicht aus dem Kopf. Meint er das ernst? Ich bekomme Angst.
"Wie war das?", fragt er, wohl wissend, dass er gerade meine Psyche fickte.
"Das ist nicht wahr!", brülle ich ihm ins Gesicht. Ich werde aggressiv. Ohne, dass ich es will, hole ich zum Schlag aus. Als meine Hand auf ihn zusaust, hält er meinen Arm fest und schaut mich entgeistert an. "Missgeburt. Du dreckige Missgeburt!", schreit er. Sein wilder Blick durchbohrt mich. Er greift hinter sich und zieht seine Klinge heraus. Ich schnappe nach Luft. Er wird doch wohl nicht? Doch, er wird. Ich sehe, wie sich sein Brustkorb stoßweise hebt und senkt, er lässt seinen Bizeps spielen. Er knackst mit seinem Nacken und leckt sich über die Zähne, so wie am ersten Tag. Er geht auf mich zu, lächelt zuckersüß. Ein warmer Strom durchfährt meinen Körper. Schnell werde ich dieses Gefühl wieder los. Spinnst du, Val? Verknall dich nich in deinen Peiniger. Ruckartig tritt er gegen meine Kniekehlen, sodass ich einknicke und hinfalle. Er presst mit einer Hand meinen Kopf auf den Boden und steht mit den Füßen auf meinen Beinen. Ich habe keine Chance, zu entkommen, geschweigedenn, mich zu bewegen. Sein Gewicht lastet auf mir, er ist leichter als er aussieht. Ich habe zum ersten Mal die Gelegenheit, ihn mir näher zu betrachten. Er sieht vollkommen abgemagert aus, direkt über seinem markanten Sixpack liegt seine tätowierte Haut. Seine Wangen sind eingefallen, wegen des Schlafmangels haben sich starke Augenringe gebildet. Etwas sticht mir ins Auge. Er trägt viele Narben am Bauch. Eine besonders große zieht sich von seinem Bauchnabel bis hoch zu seiner linken Brust. Wovon sie wohl stammen? Womöglich werde ich es nie erfahren, denn genau in diesem Moment spüre ich die Klinge in meinem Rücken. Der Schmerz treibt mir erneut die Tränen in die Augen. Ich stöhne. Bewusst drückt T die Klinge nicht tief herein. Verletzen, foltern, quälen - aber nicht umbringen. Ich fühle, wie mein warmes Blut meinen Rücken herunterläuft und eine Pfütze bildet. Bei dem Anblick fange ich an, alles verschwommen zu sehen. T's dumpfes Lachen dringt kaum mehr zu mir durch. Ich schließe die Augen und lasse mich ins Jenseits befördern. Ich hoffe, dass ich nie wieder zurückkehre.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 29, 2017 ⏰

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