Das Referat

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Es war ein ruhiger Morgen. Jeder Bürger der kleinen Vorstadt Roneville war bereits wach und auf der Arbeit. Es war ein Tag mitten im September. Kaum andere Tage, als die Mitte-September-Tage treffen die Beschreibung des Alltags mehr, als diese. Und in der Stadtmitte stand die Schule mit allen Schülern, welche schon sehnsüchtig das Ende der ersten Stunde erwarteten. Auch Melia saß in einem der Räume und auch wenn der Unterricht erst seit 15 Minuten lief, wartete sie jetzt schon auf den so verhießenen Gong. Frau Markgraf stand an der Tafel, versuchte ihren Schülern etwas von Integralrechnung zu erklären und schrieb einige Formeln an das dunkelgrüne Schiefer. Auch wenn Malia nicht die Hellste war, was Mathe betraf, hörte sie nicht zu. Lieber kritzelte sie auf ihrem Block herum und begann zu Tagträumen. Sie stellte sich vor, wie es wäre anders zu sein. Wenn sie schneller wäre oder stärker oder hübscher oder schlauer und wie ihr Leben dann aussehen würde.
‚,Malia!" Sie schreckte hoch. Ihre Banknachbarin Leonie hatte ihr gleichzeitig den Ellenbogen zwischen die Rippen gejagt.
,,Ähm...ja?" Stotterte sie verwirrt, als sie bemerkte, dass es zudem Frau Markgrafs Stimme war, die sie aus ihren Gedanken gerissen hatte.
,,Nicht Ja. Deine Antwort, bitte."
Malia wurde hochrot. Sie hatte nichtmal die Frage gehört. "Meine Güte. Sie sind schon die Zweite, die heute nicht zuhört. Was ist denn nur los? Die Stunde hat gerade erst be-" Frau Markgraf wurde jeher unterbrochen, als die Tür aufgerissen wurde. Ein hellblondes Mädchen mit löchrigen Jeans und Nietenlederjacke betrat den Raum. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um. Doch als sie erkannten, um wen es sich handelte, wandten sich alle wieder ihren Beschäftigungen zu, während ihr Frau Markgraf aufgebracht die Leviten las. ,,Tara! Unfassbar, du bist schon wieder zu spät. Das ist schon das vierte Mal in dieser Woche. Was hast du dazu zu sagen?"
,,Also kann ich diese Woche nur noch einmal zu spät kommen." Antwortete diese und lies sich mit einer Lässigkeit, die jeden anderen in dieser Situation unmöglich wäre, auf einen Stuhl in der dritten Reihe fallen. Frau Markgrafs Kopf begann puterrot zu werden, dessen Farbe jeder Tomate alle Ehre machte. ,,Das reicht! Du bleibst den Rest der Stunde vor der Tür!" Sie deutete zum Ausgang. Tara verdrehte die Augen und erhob sich vom Stuhl. Während jeder Schüler das Spektakel mit Untertassengroßen Augen mitverfolgte, blieb Tara im Türrahmen stehen, drehte sich um, sagte: ,,Und die Lösung ist 74 Einheiten." Und verschwand aus dem Klassenraum. Frau Markgrafs Kreide zerbrach zwischen ihren Fingern.
Malia hatte sie in der Zeit völlig vergessen, dessen Banknachbarin Leonie sich nun zu ihr beugte. ,,Tara ist schon wieder zu spät. Den Kommentar hätte sie sich echt verkneifen sollen."
,,Immerhin wurde sie nicht wieder zum Direktor geschickt."
,,So oft wie sie zu spät gekommen ist und so viele Einträge, wie sie hat, ist es ein Wunder, dass sie noch auf der Schule ist."
,,Es sind eher ihre Noten, die ein Wunder sind. Abgesehen von ihren Verhaltensnoten ist sie überall Klassenbe-"
,,Malia!" Ermahnte Frau Markgraf sie erneut und Malia rückte ein Stück von Leonie ab.
Tara war nicht ihr richtiger Name. Eigentlich hieß sie Tabea und niemand wusste, wer genau auf die Idee gekommen ist Tara von Tabea abzuleiten. Trotzdem nannte die jeder so, weil sie es nicht leiden konnte, wenn man sie bei ihrem richtigen Namen nannte. Und es traute sich auch keiner. Nicht etwa, weil Tara gewalttätig war oder so aussah, als ob sie Freunde hätte, die die Dinge schnell mal für sie klären würden. Nein, aber niemand traute sich sie mit Tabea anzusprechen, weil sie überall für ihre spitze Zunge bekannt war. Ihr Sprüche und Kommentare waren legendär und es wurde sogar gemunkelt, dass Reporter der Schülerzeitung sie sammelten und im Abschlussjahr als Zusatzausgabe veröffentlicht  würden. Malia war sich sicher, dass auch der bissige Kommentar von gerade eben schon längst irgendwo aufgeschrieben worden ist.
Es dauerte noch eine Weile bis es tatsächlich klingelte und Leonie mit Malia am Arm als Letzte aus dem Raum ging. Gerade als sie die Tür erreichten, kam ihnen Tara entgegen und sie quetschten sich an die Wand, um ihr Platz zu machen. Die Tür ging zu und Tara war verschwunden.
,,Mann, sah die wütend aus." Leonie sah noch immer auf die Tür. ,,Aprops wütend. Ich wäre echt super wütend, wenn wir heute Nachmittag nichts zusammen machen." Sagte sie enthusiastisch und lächelte. Malia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Leonie war die wohl seltsamste Freundin, die sie je hatte. Ihre Stimmung war wandlungsfähiger als jedes Chamäleon und man wusste nie, ob sie gerade Sonnenschein oder Miesepeter war. Und genau so sah sie auch aus. Ihre Haare zierten fast jede Woche eine andere Farbe und ihre Klamotten gingen von quitschend bunt zu düster dunkel. Auch wenn Leonie ein an sich hübsches Mädchen war, so hatte sie Malias Meinung nach, einen zu großen Mund. War sie traurig so hingen ihre Mundwinkel so weit unten, dass sie fast ihr Kinn berührten und war sie glücklich, so würde ihr Mund bei einem Lächeln einmal um den Kopf herumgehen, wären nicht die Ohren im Weg. Der Gedanke daran lies Malia belustigt grunzen, sie nickte aber.
Der Rest des Tages verging genauso langsam, wie er angefangen hatte. Malia zählte die Minuten bis zum Ende der letzten Geschichtsstunde dieser Woche, während sie trotzdem aufmerksam zuhörte. Im Gegensatz zu Mathematik, mochte Malia Geschichte und auch wenn die Zeit des ersten Weltkriegs eine sehr Unschöne war, so faszinierte sie diese trotzdem. Tara hatte schon zur zweiten Stunde das Klassenzimmer wieder betreten dürfen und lungerte nun in der hintersten Reihe an einer Bank ganz für sich.
,,Okay bevor wir das Thema des zweiten Weltkrieges weiter besprechen, müssen wir noch eine andere Sache vom Lehrplan abarbeiten." Frau Dahle legte die Hände ineinander und verkündetet voller Stolz: ,, Es wird Zeit auf unsere ehrenwerte Stadtgeschichte genauer einzugehen."
Ein genervtes Gestöhne ging durch die Reihen. Selbst Malia verdrehte die Augen.
,,Was regt ihr euch alle so auf? Dann reden wir alle 4 Minuten über Ronevilles Entstehungsgeschichte und dann ist es vorbei." Tönte es aus der letzten Reihe. Tara heimste sofort ein paar wörtliche Züchtigungen ein.
Aber im Grunde, so wusste Malia, hatte Tara recht. Die Geschichte von Roneville ist weder eine besonders lange, noch eine besonders Spannende. Roneville war schon im Mittelalter bebautes Land, jedoch nur mit wenigen Häusern und auch ohne den heute bekannten Namen. Wirklich gegründet wurde diese erst vor knapp 100 Jahren, noch bevor der erste Weltkrieg begann und es wurden innerhalb weniger Jahre viele Häuser und Ämter gebaut. Das Dorf wuchs schließlich zu einer Kleinstadt heran mit knapp 10.000 Einwohner, einer Schule, zwei Supermärkten und einer nahegelegenen Autobahn. Vor zwei Jahren hatte sogar ein Kino eröffnet. Aber eben weil es eine so junge Stadt war, konnte man nicht viel darüber erzählen. Und jeder Bürger kannte das Bisschen bereits. Es gab nichts Besonderes an Roneville. Außer vielleicht dem leerstehenden Gelände am Ortsrand. Im ersten Weltkrieg wurde dort ein großgelegenes Militärgelände erbaut, da es perfekt war, um überall hinzukommen und gleichzeitig war Roneville so unauffällig, dass dort nahezu nichts und niemand auffiel. Doch das Gelände an sich ist nicht die Besonderheit, sondern das, was sich darin befindet. In einem der Trakte liegt eine Tür, die verschlossen ist und bisher niemand öffnen konnte. Keiner weiß wieso sie nicht aufgeht oder warum man nicht in den Raum dahinter kommt. Es wurde schon so viel versucht die Tür zu öffnen von Dietrich bis Sprengung und auch durch die Wände kommt man nicht. In der dritten Klasse musste die Klasse um Malia einen Schulausflug zum Gelände machen und durfte miterleben, wie versucht wurde mit Hilfe einer Abrissbirne die Wände zum Einsturz zu bringen. Doch zur Überraschung aller blieben diese unversehrt. Niemand weiß wieso man nicht in das Zimmer gelangen kann. Es wird sogar gemunkelt, dass ein Fluch darauf läge, da die Soldaten des ersten Weltkriegs die Wertsachen der Kriegsgefangenen gestohlen und in diesen Raum gesperrt haben sollen und da die Seelen der Gefangenen nun keine Ruhe finden können, haben sie es verhext und sorgen dafür, dass nicht nur die Soldaten, sondern auch jeder andere den Schätze fernbleibt. Aber Malia hielt diese Geschichte natürlich für Blödsinn. Gäbe es wirklich so etwas wie Geister, dann würden sie es nicht zulassen, dass jedes Jahr unzählige Touristen zum Spaß für 5€ Eintritt versuchten besagte Tür zu öffnen, wie es auch beim Schwert Excalibur war. Die Tür von Roneville war nur ein geschmackloser Abklatsch dieser Sage.

Frau Dahle begann Vortragsthemen zu verteilen. ,,Elisa und Aron, ihr haltet über die glorreiche Geschichte des Rathauses. Markus und Jeremy, ihr über die Problematik der Eröffnung der Autobahn." Sie sagte alles so voller Elan, dass sich Malia nicht sicher war, ob das wirklich nur Kaffee in ihrer Tasse war. ,,Theresa und Lina, ihr erzählt uns etwas über den Architekturskandal von 1964 und Tara und Melia ihr über das Militärgelände." Malia horchte auf. Hatte sie gerade tatsächlich gehört, sie solle mit Tara zusammenarbeiten. Unsicher drehte sie sich nach hinten um. Auch Tara hatte sich vorgelehnt und sah ungläubig zu Frau Dahle.
,,Darf ich nicht alleine halten?" Fragte sie, was verneint wurde. ,,Aber ich darf sonst immer alleine vortragen." Genervt lehnte sie sich zurück.
,,Dann eben diesmal nicht. Es gibt sonst nicht genug Themen."
,,Kann ich nicht stattdessen alleine über die Entstehung des Kinos halten?" Fragte Tara und warf Frau Dahle gleichzeitig tötende Blicke zu. Es gab nicht viele Lehrer, die gegen Tara und ihre Willenskraft immun waren, weshalb sie auch ständig Partnerarbeiten ausweichen konnte, aber Frau Dahle war es und Tara wusste das. ,,Das Kino gibt es noch nicht lang genug."
,,Die ganze Stadt gibt es noch nicht lang genug."
,,Das-" begann Frau Dahle und zog die Nase hoch ,,ist Ansichtssache." Sie rekte ihre Schultern und gab damit bekannt, dass das Thema vorbei war. ,,Also du und Malia, Militärgelände, nächste Woche Donnerstag ."
Der Gong ertönte und die wutentbrannte Tara war die Erste, die aus dem Raum stürmte. Verunsichert blieb Malia bis zum Schluss da. Sie wollte Tara nicht unbedingt begegnen, wenn es nicht dringend nötig war. Und deshalb wog sie gerade ab, wie dringend nötig das Referat war. Denn das war etwas, worauf sie liebendgern verzichten würde.

Die Tür von Roneville Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt