"Lia! Hallo!" ich würde gerne Antworten aber ich kann nicht. "Lia! Bitte!" diese Stimme... die kenne ich! Mühsam versuche ich mich zu bewegen, doch irgendetwas hindert mich daran. Meine nächste Handlung: die Augen öffnen. Doch das Schwarz verändert sich kaum. Ich spüre etwas um meinen Kopf und will es berühren, aber meine Hände bewegen sich nicht. Nachdem mir der Tast- und der Sehsinn genommen wurden, muss ich mich auf die Restlichen konzentrieren. Mein Hals ist kratzig, die Lippen rissig und an einigen Stellen aufgesprungen, sodass das einzige was ich hervorbringe, ein armseliges Wimmern ist. Anscheinend war es laut genug, denn prompt kommt einen Antwort: "Endlich! Gott sei Dank. Du bist wach. Wenn du dich auf die rechte Seite legst, kommst du ziemlich genau an das Wasserglas heran, was neben dir steht. Langsam, Langsam. Gut, noch ein Stück." Und dann bin ich dort, mit den Lippen taste ich vorsichtig nach dem Rand und trinke gierig einige Schlucke. Das Wasser schmeckt herrlich, obwohl es bereits abgestanden ist. Es klärt auch meine Sinne und ich erinnere mich an die Stimme. Und daran, dass ich auf den Mann mit der Stimme verdammt wütend bin. "Wieso bin ich hier?" meine Stimme tönt kratzig und ungewohnt heiser, weshalb ich mich leise räuspere. Dabei wäre seine Antwort beinahe untergegangen, doch ich bin mir nicht einmal sicher ob er zu mir oder sich selbst geredet hat. "Du bist mein Kryptonit, meine Schwachstelle." – "Deine Schwachstelle? Du hast vor zwei Wochen mit mir Schluss gemacht! Am Telefon, einfach so und hast dich danach nicht mehr gemeldet. Weisst du wie das für mich war?" - "Du wirst mir nicht glauben aber für mich war es ebenfalls nicht leicht. Und trotzdem hat mir das alles nichts gebracht... Zwei Wochen ist es bereits her seit..." Zum Ende hin wird er immer leiser bis er schliesslich verstummt und in Gedanken versunken zu sein scheint. Kann es sein, dass er bereits seit zwei Wochen hier gefangen ist? Was musste er alles durchmachen? Meine Wut ebbt mit jeder Minute des Schweigens mehr ab und ich versuche erneut mit ihm zu kommunizieren. "Hast du auch die Arme und Beine zusammengebunden?" - "Ja, aber nicht so eng wie du. Dafür bin ich so festgebunden, dass ich mich nur einige Zentimeter bewegen kann. Du kannst dich soweit ich das sehe mehr bewegen." - "Wieso hast du keine Augenbinde auf?" kurze Pause. "Ich glaube das willst du nicht wissen. Oh verdammt!" - "Was ist?" - "Diese Schweine haben das Licht ausgemacht! Jetzt sehe ich genau so viel wie du." Danach war es einige Zeit still zwischen uns und ich hing meinen Gedanken nach. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich sitze hier unten mit meinem Exfreund, welcher aus heiterem Himmel mit mir Schluss gemacht hatte und sich dann nicht mehr gemeldet hat. "Maro?" Leises Stöhnen aus seiner Richtung, "Maro, ich muss es wissen, wieso sind wir hier?" - "Das ist eine lange Geschichte, Lia. Und es könnte gefährliches Wissen für dich sein." - "Wir stecken hier gemeinsam fest und wir werden das auch gemeinsam da hinaus schaffen. Aber dazu muss ich wissen wieso wir überhaupt hier sind." Keine Ahnung von wo diese Worte gerade kamen, aber sie scheinen zu wirken und er scheint nachzudenken, denn es ist eine ganze Weile ruhig zwischen uns. Als ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechne, beginnt er plötzlich wieder zu reden. "Ok, unter einer Bedingung. Hast du immer noch deine Augenbinde auf?" - "Ja." - "Du musst mir versprechen, dass du während unseres gesamten Aufenthaltes hier unten die Augenbinde auflässt und sie unter keinen Umständen abnimmst. Bitte Lia, niemals!" - "Das könnte schwierig werden, selbst wenn ich es wollte." - "Lia! Du musst es mir versprechen! Nimm sie nie, hörst du, niemals ab!" - "Ja, ja ist gut, ich habe dich verstanden. Du musst nicht gleich laut werden." Er seufzt. "Sorry, aber es ist für mich wirklich wichtig." Ich versuche bei meinen nächsten Worten so zu klingen wie ich es auch meine, nämlich ernst. "Ich verspreche es dir." - "Gut." Dann macht er eine kleine Pause, bevor er weiterredet.
"Du kennst doch mein Faible für Computer oder?" ich bejahe und er fährt fort. "Es hat mir immer mehr Freude gemacht, Dinge zu hacken. Zuerst waren es nur Computer und Laptops von Verwandten und Bekannten. Doch dann hat mich der Ehrgeiz gepackt und ich habe mich an Grösserem versucht. Auf Facebook bin ich zusammen mit meinem besten Freund Julien einer Gruppe von Hackern beigetreten, um unter Gleichgesinnten zu sein. Eines Tages bekam ich eine Nachricht, ob ich Interesse an einer kniffligen Aufgabe hätte und ich sagte aus Neugier zu. Im Nachhinein keine gute Idee. Ich habe dann angefangen, mit einem kleinen Team die Server von grossen Banken zu hacken und Geld abzuzweigen. Nur so viel, dass sie es nicht bemerken, aber genug, um uns einen ordentlichen Gewinn zu sichern. Ich war gut, zu gut. Ohne dass ich es merkte, rutschte ich immer tiefer in die Scheisse und irgendwann wurde mir klar, dass ich mächtig Ärger an der Backe habe, würde das Ganze auffliegen. Ich wollte aussteigen. Doch das war nicht so einfach, denn meinem Team gefiel das gar nicht. Auch wenn sie es nicht zugeben wollten, ich war der Beste. Mich zu verlieren bedeutete, eine Menge Verluste zu machen. Der Boss unseres Teams stand keine Woche nach meiner Verkündigung in meiner Wohnung und wollte eine Unterredung mit mir. Er laberte davon, dass ich zu den besten seiner Unternehmung gehöre und grosses mit meinem Talent leisten könne. Es beunruhigte mich sehr, dass er anscheinend wusste, wo ich wohnte. Er drohte mir, dass ich es bereuen würde, wenn ich nicht das tue, was er sagt und behauptete, wer einmal drin steckt, kommt nie wieder lebend heraus. Er hatte zwei Schlägertypen dabei, mit Schlagring und Schlagstock bewaffnet. Aus Angst habe ich dann den Schwanz eingezogen und weiter gemacht. Bis ich eines Tages per Zufall ein Gespräch belauschte, in dem es darum ging, dass sie vorhatten, die Server des Geheimdienstes zu hacken, um so an geheime Informationen zu kommen, die sie dann entweder an den Meistbietenden verkaufen, oder aber sie für eine hohe Auslösesumme zurück verkaufen wollen. Erneut bekam ich es mit der Angst zu tun, denn das war ein ganz grosser Unterschied. Sich mit dem Geheimdienst anzulegen, war ein anderes Kaliber als Banken zu berauben. Zu gross für uns, wie ich fand. Ich erzählte Julien davon, dass ich untertauchen werde und bat ihn, mitzukommen. Doch er wollte die Gefahr nicht sehen, nur das Geld. Und so ging ich. Allein. Ich war so naiv zu glauben, sie würden mich nicht finden, doch falsch gedacht. Sie fanden mich in meiner Wohnung, während ich noch die letzten Dinge eingepackt habe. Wie ich später herausfand, hat Julien mich verpfiffen. Zuvor habe ich dir angerufen und mit dir Schluss zu machen, in der Hoffnung, sie würden dich dann in Ruhe lassen. Dann haben sie mich hierher mitgenommen. Ich sollte mich in die Server des Geheimdienstes hacken und eine Hintertür für den Boss einbauen, damit er jederzeit Zugang zu allen dort gelagerten Dateien hätte. Doch ich weigerte mich. Denn würde ich das machen, könnten brisante Details an die Öffentlichkeit geraten. Und dies war ein weiterer Fehler von mir, denn sie haben mich mit unzähligen Methoden zu brechen versucht. Zwei Wochen lang, aber ohne Erfolg. Dann hat Julien, mein ehemaliger bester Freund ihnen gesteckt, dass ich eine Freundin habe, oder zu diesem Zeitpunkt hatte, und sie haben dann dich als Druckmittel hierher geschleppt. Nun haben sie geschafft was sie wollten. Und den Rest der Geschichte kennst du ja." - "Und jetzt hackst du dich für sie in diese Server? Kannst du denn nicht mit dem Computer Hilfe anfordern?" - "Ja und Nein. Besser gesagt ich versuche es. Sie sind aber leider nicht so dumm. Der PC hat zwar einen Internetanschluss, Jedoch haben sie gedroht dir etwas an zu tun, würde ich ihn anderwärtig benutzen. Sie überwachen die Internetverbindung des Computers wahrscheinlich nonstop." - "Ich muss bei deiner Geschichte irgendwie an ein Zitat von Maslow denken." - "Aha Und was für eines?" - "Leider kommt mir der genaue Wortlaut gerade nicht in den Sinn, aber es ging darum, dass man immer zwei Möglichkeiten hat, entweder nach vorne zu laufen oder zurück zu gehen. Ich habe mir das einmal als Lebensmotto genommen, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht das richtige für mich ist, denn immer wenn ich irgendwelche Chancen im Leben hatte, habe ich den Schritt zurück anstatt den nach vorne gemacht. Das ist bis heute so geblieben. Da haben wir etwas gemeinsam. Du hast auch den Schritt zurück gewählt." Ich höre ihn belustigt schnauben. "Findest du das etwa witzig?" Frage ich etwas zu schnippisch als ich wollte. "Nein, überhaupt nicht. Es hat mich nur an etwas erinnert." - "Ach, und an was?" - "Nicht so wichtig." Sagt er ausweichend. Und dann etwas sanfter: "Versuche jetzt ein bisschen zu schlafen."
Und ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht, aber es geht nicht. Zu viele unbeantwortete Fragen, zu viele Ungereimtheiten. Irgendwann gebe ich es auf, doch dank der Augenbinde habe ich keine Ahnung wie spät es ist. Nach kurzem Überlegen flüstere ich leise "Maro, Maro bist du wach?" - "Ja." kam es prompt zurück. Aber etwas stimmt nicht. Er tönt so anders, irgendwie...schwächer. "Maro alles in Ordnung?" - "Mach dir keine Sorgen, ich konnte nur nicht schlafen." Genau wie ich, denke ich im Stillen. "Weisst du wie spät es ist?" - "Exakt 16:37!" Sagt eine dritte Stimme aus dem Nichts. "Julien was soll das? Was tust du ihr an? Halte mich meinetwegen so lange hier wie du willst, aber wieso hast du sie da mit hinein gezogen? Du Arschloch!" - "Hee, Hee, sachte mein Freund, du weisst..." - "Nenn mich nie wieder Freund! Diese Zeiten sind vorbei, du scheiss Speichellecker! Ein kleiner Wicht, der versucht die Gunst des Bosses zu erlangen! Du fühlst dich wohl ganz cool, jetzt wo du mich verraten hast!" Ich kann es förmlich spüren, wie die Spannung im Raum steigt und ich wünschte, ich könnte etwas machen, aber das geht nicht. Sie beschimpfen sich immer heftiger und plötzlich höre ich einen dumpfen Laut, gefolgt von einem lauten aufkeuchen Maros. Dann Stille. "Was hast du mit Maro gemacht? Lass' ihn in Ruhe!" schreie ich und ziehe gleichzeitig aus Verzweiflung heftig an meinen Fesseln. Sie schneiden mir an den Handgelenken ein, aber das interessiert mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich stemme mich noch heftiger gegen sie. Bedrohlich langsam nähern sich seine Schritte und ich halte abrupt inne. "Applaus, sie kann reden. Jetzt hör mir mal genau zu, Fräulein. Dein Freund wird es nicht mehr lange machen, wenn er weiter so herumbrüllt. Also bring ihn dazu aufzuhören sonst..." Die Worte hat er mir ins Ohr geflüstert und mir kam dabei eine Fahne seines Aftershaves in die Nase, was zugegebenermassen gar nicht schlecht riecht. Seine Schritte entfernen sich und die Tür fällt leise ins Schloss, danach dreht sich knirschend ein Schlüssel. Als könnten wir hier abhauen, denke ich ironisch. Maro fängt an zu husten und ich höre, wie er auf den Boden spuckt. "Maro, was hat er dir angetan?" - "Nicht so schlimm, wirklich. Mach dir keine Sorgen." - "Aber..." - "Shht... alles wird gut. Ich verspreche es dir." Bringt er gepresst hervor. Dann wieder langes Schweigen, das einzige was nach einiger Zeit zu hören ist, ist das leise Klackern der Tasten des Computers, an dem Maro gerade arbeitet. Dieser gleichmässige Ton beruhigt mich und ich bin so übermüdet, dass ich in einen unruhigen Schlaf falle.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich bereits hier bin. Nur einige Stunden? Schon Tage? Aber ich vermute letzteres. Bis jetzt haben wir dreimal einen Drink bekommen, der uns anscheinend mit wichtigen Nährstoffen versorgen soll und sechsmal Wasser. Nein sogar siebenmal, weil Maro einmal das Glas umgeworfen hat und es zerbrochen ist. Sein Kumpel ist polternd in den Raum gekommen und hat die Scherben mitgenommen. Danach gab es nur noch Plastikbecher. Ich merke, wie Maro immer schwächer wird, aber ich traue mich nicht, ihn danach zu fragen. Maro hat die Hoffnung bereits aufgegeben, lebend hier herauszukommen, das spüre ich. Vielleicht hat er sogar Recht, denn sie können es nicht riskieren, ihn frei zu lassen, da er dann alles ausplaudern würde. Dann kommt mir ein Gedankenblitz. Wenn sie ihn nicht laufen lassen können, dann auch mich nicht. Ich werde auch hier unten sterben. Und mit diesem Gedanken, kommt auch meine Angst zurück. Was ich allerdings nicht wusste: Heute wird sich alles entscheiden.
Wie üblich kommt Julien früh am Morgen zu uns und wir müssen unsere Drinks trinken. Nachdem er bei mir war, geht er zu Maro und plötzlich höre ich, wie jemand zu Boden geht. Jetzt hat er Maro schon wieder geschlagen, war mein erster Gedanke. Aber es war anders, denn ich höre laute Flüche von Julien und dann, wie sie sich gegenseitig versuchen zu schlagen. "Maro? Was passiert hier? Maro!" voller Panik lausche ich dem Kampf, welcher eine ganze Weile andauert. Dann höre ich einen schrecklichen kehligen Laut, welcher abrupt abbricht, jemand atmet heftig. Und ich glaube derjenige ist gerade auf den Boden gefallen. Ausser den lauten Atemgeräuschen höre ich nichts mehr. Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, zu versuchen die Augenbinde abzunehmen. Ich erinnere mich dann aber an Maros Worte und wie wichtig ihm mein Versprechen zu sein scheint und ich lasse es bleiben. Jetzt wühlt er herum und scheint fündig zu werden, es ertönen kurze Pieptöne. Ich höre ein leises, fast nicht vernehmbares "Hilfe...Bitte" danach nichts mehr.
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Einen Schritt nach vorne
Short StoryDas erste was Lia wahrnimmt ist, dass sie an Armen und Beinen gefesselt ist und ihre Augen verbunden sind. Dann bemerkt sie, dass sie noch einen Leidensgenossen hat, nur leider ist er kein Unbekannter...