Schon seit etwa fünf Minuten sitze ich unbeweglich an Ort und Stelle. Dann höre ich es, leise Sirenen und sie kommen immer näher. Hoffnung keimt auf. Näher, näher und dann stoppen sie. Einen schrecklichen Moment lang denke ich, dass sie woanders hingefahren sind, doch dann höre ich, wie leise Schritte sich nähern. Dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Jemand brüllt „POLIZEI! Waffen fallen lassen!" Ein riesiges Stimmengewirr ist entstanden. Das meiste verstehe ich nicht. „Ein Toter und mindestens einen Verletzten. Brauchen dringend einen RTW. Ende." Schwere Schritte kommen auf mich zu und es überraschte mich, als eine Frauenstimme zu sprechen beginnt. „Nicht erschrecken ich bin von der Polizei. Sind Sie verletzt?" – „Nein" – „Dann können Sie gehen wenn ich Sie dabei unterstütze?" Ich nicke langsam. „Gut, dann mache ich Ihnen die Augenbinde ab." Instinktiv zucke ich zurück und versuche ihren Händen zu entgehen. „Nein! Nein! Ich habe es ihm versprochen!" quietsche ich panisch. „Schon gut. Keine Angst. Dann löse ich nur Ihre Fesseln und führe Sie nach draussen in Ordnung?" - „OK." Sie löst meine Fesseln und hilft mir aufzustehen. Ich fühle mich etwas schwach auf den Beinen vom langen Sitzen. Sie führt mich aber nichts desto trotz sicher nach draussen und setzt mich auf der Treppe ab. „Um sie komplett untersuchen zu können, müssen wir die Augenbinde aber abnehmen." Flüstert jemand der Polizistin zu. Aber ich komme ihnen zuvor. Langsam öffne ich den Knoten an meinem Hinterkopf und nehme sie ab. Stück für Stück öffne ich die Augen und ich kann Umrisse erkennen. Der Himmel ist wolkenverhangen und einige Nebelfetzen ziehen umher. Das Blaulicht spiegelt sich an der rauen Hauswand. Überall eilen Rettungskräfte und Polizeibeamten an mir vorbei, einige werfen mir einen mitleidigen Blick zu. Sanft aber bestimmt bedeutet der Rettungssanitäter mir, dass ich zum Rettungswagen kommen soll und zaghaft setze ich mich in Bewegung. Im Wagen darf ich mich auf eine kleine Bank setzen und er untersucht mich von Kopf bis Fuss. Nach und nach lässt das Adrenalin nach und ich beginne zu begreifen, was sich abgespielt hat. Ich bin frei, mir ist nichts passiert und ich bin noch ganz. Aber.... Maro! Hektisch blicke ich nach links und rechts. Ich muss ihn finden! Ich muss wissen wie es ihm geht. Mein Atem beschleunigt sich und Jamie, der Rettungssanitäter, versucht mich zu beruhigen, ohne Erfolg. Ich schrecke aus meiner Hysterie, als er plötzlich laut an der geschlossenen Wagentüre klopft. Inzwischen giesst es draussen in Strömen und die Polizistin von vorhin kommt hinein. Die Regentropfen bahnen sich einen Weg über ihre Jacke bevor sie beinahe lautlos auf den Boden fallen. „Maro! Wo ist er?!" ich greife nach ihrer Jacke und halte sie eisern fest. Bevor ich nicht weiss was mit ihm ist, werde ich sie nicht mehr loslassen. Ihre Augen fixieren nun direkt meine und ich halte inne. „Ich erkläre Ihnen alles wenn Sie sich beruhigt haben." – „Ich bin ruhig." Zische ich verkrampft. Sie seufzt. „Lassen Sie mich zuerst los." Langsam öffne ich meine geballte Faust und lasse die Jacke los. „Danke. Der junge Mann wurde eben mit dem Krankenwagen ins Spital gefahren zur genaueren Abklärung. Er war kurz bei Bewusstsein und hat auch einige Worte gesagt. Ich konnte zwar nicht alles verstehen, aber er sagte unter anderem Ihren Namen, dann etwas von einem Computer der im Keller ist und einer Nachricht. Daraufhin ist er wieder weggetreten. Es liess mich nicht mehr los und ich bin nach unten in den Raum in dem Sie festgehalten wurden und habe den besagten Computer gefunden. Und die Nachricht darauf. Wenn Sie sich dazu bereit fühlen, zeige ich sie Ihnen." Langsam nicke ich und sie öffnet ihre Jacke unter der sich ein Laptop befindet. Sie klappt ihn auf und dreht den Bildschirm so, dass ich das Geschriebene lesen kann, welches auf dem Bildschirm aufflammt:
Liebe Lia,
Wenn du das liest, dann bist du frei gekommen und hoffentlich unverletzt. Gott sei Dank. Aber wenn du das liest, dann heisst das auch, dass mein Plan aufgegangen ist und ich höchst wahrscheinlich nicht mehr unter euch weile. Denn sonst hätte ich dir diesen Brief gar nicht gezeigt sondern persönlich mit dir geredet. Ich habe dir nicht die ganze Wahrheit gesagt, vermutlich weil ich zu feige dazu war. Aber wenigstens zu einem war ich nicht zu feige: Dir das Leben zu retten. Denn mit grösster Sicherheit hätten sie dich auch nachdem ich es geschafft hätte nicht frei gelassen. Für mich habe ich die Hoffnung bereits sehr viel Länger aufgegeben. Dafür gibt es auch noch einen zweiten Grund. So wie ich dich kenne, hast du bemerkt, dass ich immer schwächer geworden bin. Das liegt daran, dass sie mich während meiner Gefangenschaft immer wieder geschlagen und gefoltert haben und sich einige der Wunden daraufhin infiziert haben. Das war auch der Grund, wieso ich nicht wollte, dass du die Augenbinde abnimmst. Ich will, dass du mich so in Erinnerung behältst wie ich davor war und nicht als menschliches Wrack. Vor zwei Tagen hatte ich die Idee dazu, dir zur Flucht zu verhelfen, solange ich noch ein wenig bei Kräften bin. und nun fühle ich mich auch bereit sie in die Tat umzusetzen. Weisst du noch als ich ein Glas umgestossen hatte? Eine Scherbe konnte ich in Sicherheit bringen um damit meine Fesseln durchzuschneiden. Wenn ich etwas in meiner Karriere als Hacker gelernt habe, dann, dass jede Gruppe und jedes Netzwerk nur so stark wie ihr schwächstes Glied ist. So ist mein Ziel Julien. Wenn ich ihn überwältigen kann, dann kannst du fliehen. Ein Funken Hoffnung bleibt mir, dass dann auch ich aus dieser Hölle entkommen kann. Aber es ist nur ein kleiner Funken, nicht hell genug um die Dunkelheit um mich zu vertreiben.
Ich wollte dich nie hier hineinziehen, deshalb habe ich mich auf schweren Herzens von dir getrennt, denn etwas, was ich mit Sicherheit sagen kann ist, dass ich dich liebe. Es fiel mir unglaublich schwer, den Kontakt zu dir abzubrechen doch ich habe mich zurückgehalten. Weisst du eigentlich, dass ich bereits seit der Oberstufe in dich verliebt gewesen bin, jedoch nie den Mut hatte es dir zu sagen? Zum Glück haben wir uns einige Jahre später auf einer Party wieder getroffen. Du sahst so bezaubernd aus in deinem dunkelblauen Kleid und den hochgesteckten Haaren. Wie eine Königin. Ich weiss, es ist nur ein kleiner Trost aber wenn ich tot bin, dann sei dir gewiss dass ich mit diesem Bild von dir in meinem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen von dieser Welt ging. Und vergiss eines nie: In jedem gegebenen Augenblick haben wir zwei Möglichkeiten: vorwärts zu gehen und zu wachsen oder sich umzudrehen und zurück in Sicherheit zu gehen. Ich habe nun den Schritt nach vorne gewählt. Was ist mit dir?
Maro
Immer und immer wieder fahren meine Augen über das geschriebene, immer wieder gehen mir die Worte durch den Kopf und trotzdem begreife ich erst jetzt, was sie bedeuten. Er liebt mich noch. Er hat mich schon immer geliebt und mich nur verlassen, um mich zu schützen. Er hat sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt. „Ich will zu ihm." – „Kurz tauschen die Polizistin und Jamie einige Blicke aus, als würden sie ein stummes Gespräch führen. Dann blickt Jamie zu mir und sagt: „Du hast zwar keine schweren Schäden davongetragen, aber ich will dich trotzdem zur Überwachung ins Krankenhaus mitnehmen. Dort kannst du dann auf ihn warten. Ich beauftrage jemanden der auf dich aufpasst." Erleichtert stosse ich die Luft aus, welche ich wohl schon eine ganze Weile angehalten habe. Ich darf zu ihm. Die Fahrt dauert gefühlt mehrere Stunden, in Wahrheit liegt das Spital nur etwa 10 min entfernt. Dort angekommen, zeigt mir Jamie noch, wo ich mich melden soll und ich bedanke mich bei ihm. Nach der Vorfreude kommt jedoch die grosse Ernüchterung. Man sagt mir, dass sie mir keine Auskunft über Maros Zustand geben können, da ich nicht zur Familie gehöre. Also nehme ich Platz im Warteraum. Eine Ewigkeit später treffen endlich Maros Eltern ein. Als sie mich sehen, schliessen sie mich in die Arme und Maros Mutter beginnt zu weinen. Schon eine ganze Weile sitzen wir im Warteraum, bis uns jemand informiert. Er sei im Moment noch im Operationssaal, da sie eine Notoperation durchführen mussten aufgrund innerer Blutungen. Zudem mussten sie viele kleinere Wunden verarzten, einige sogar nähen. Wie auf heissen Kohlen sitze ich da und denke über seine Worte nach, die er geschrieben hatte. Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht und ich ihm nie sagen kann, dass ich ihn auch immer noch liebe und nie damit aufhören werde? Was ist, wenn er zwar überlebt, aber nicht mehr der Selbe ist? Was ist jetzt zwischen uns? Was passiert mit ihm, wenn die Polizei herausfindet, wieso er entführt wurde? Muss er dann ins Gefängnis? Fragen über Fragen doch keine Antworten. Es ist bereits spät am Abend, als ein Arzt mit ernstem Gesicht zu uns herantritt. Oh Gott! Jetzt wird's ernst! Ich schlucke einmal schwer. „Herr und Frau Albers?" - „Ja?" Kommt es schwach von Maros Mutter. Er beginnt zu reden. Ich sehe es an seinem Mund, welches sich unablässig bewegt. Ich höre ihn auch, begreife aber nicht was er uns sagen will. Nur nach und nach sickern die Informationen in mein Gehirn und ich begreife langsam.
Und dann, beginne ich zu weinen. Die ganze Zeit über bin ich stark geblieben, für Maros Eltern und für ihn doch jetzt kann ich einfach nicht mehr stark sein, ich schaffe es nicht mehr. Ich werfe mich in die Arme von Maros Vater und beginne hemmungslos zu weinen. Das erste Mal seit Tagen lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf. Und er hält mich einfach nur fest. Mein Leben wird nie wieder so sein wie vorher. Nie wieder...
Wenn es regnet, halte Ausschau nach den Regenbögen und wenn es dunkel ist, nach den Sternen. Denn die Hoffnung lässt sich finden selbst an den dunkelsten aller Tage. (Oscar Wilde und Dalai Lama)
ENDEKurze Frage an euch: Wie denkt ihr würde es weitergehen? Seid ihr eher für ein Happy End oder eher ein trauriges? Oder etwas dazwischen? Ich bin gespannt :-)
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Einen Schritt nach vorne
Short StoryDas erste was Lia wahrnimmt ist, dass sie an Armen und Beinen gefesselt ist und ihre Augen verbunden sind. Dann bemerkt sie, dass sie noch einen Leidensgenossen hat, nur leider ist er kein Unbekannter...