Der Prolog oder auch die Worte, mit denen alles begann

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An meine geliebte Enkelin Nuraya,

ich habe nicht viel Zeit, doch ich möchte mich in diesem kurzen Schreiben an das junge, tapfere Mädchen wenden, welches ich noch vor noch wenigen Jahren mit einem Lächeln auf den Lippen in den Schlaf gesungen hatte. Für welches ich in der Vergangenheit viele Fehler begangen habe und auch jetzt mit diesem Brief einen weiteren unverzeihlichen Fehler begehen werde.

Ich weiß nicht wie ich es am besten formulieren soll, ich finde nicht die Worte, die ich dir so gerne sagen würde. Die ich dir sagen muss.

Es mag grausam klingen, doch mein geliebtes Kind, deine gut behütete Kindheit wird nun schlagartig ein Ende finden müssen, auch wenn das das Gegenteil von dem ist, für das deine Eltern all die Jahre gekämpft hatten.

Ich weiß, du hast in der Vergangenheit viele grausame Szenen mit ansehen müssen, du hast Leid und Schmerz erfahren – doch all das war erst der Anfang, die Fassade dieser Welt bröckelt längst.

Wahrscheinlich ist bereits vor langem die Zeit gekommen, in der du wissen solltest, wie grausam diese Welt ist. Vielleicht suchst du nach Antworten auf all die Fragen, die deinen Kopf zerplatzen zu drohen, doch sei beruhigt auch ich musste nach Antworten suchen.

Du musst lernen, dass man nicht immer das schützen kann, was man doch eigentlich so unendlich liebt. Du musst lernen, dass viele Dinge sich nicht beherrschen lassen, dass wir viele Dinge nicht kontrollieren können, auch wenn andere das vermuten mögen.

Und genau deshalb schreibe ich an dich, Nuraya. Du musst lernen und verstehen. Ich möchte, dass du auf das Kommende vorbereitet bist, selbst wenn man sich nicht vorbereiten kann. Ich möchte, dass du die Kraft besitzt, all das zu überstehen. Du darfst keine Schwäche zeigen, verstehst du?

Ich hoffe so sehr, dass wir uns sehen werden, wenn du diesen Brief lesen wirst, doch Nuraya, ich kann es dir nicht versprechen. Wir haben keine Zeit.

Die Welt braucht dich. Die unschuldigen Kinder, die Familien.

Nuraya, ich bitte dich, lass dir nicht einreden was du zu sein hast, lass dir nicht sagen, wie du handeln musst.

Und ganz wichtig, vertraue niemandem.

Die Welt ist längst von einem dunklen Schatten umgeben und jegliches Licht, welches versucht gegen all jene Dunkelheit anzukämpfen, kann viel zu schnell verschluckt werden.

Erinnerst du dich an den Ort, an welchem früher Bergks großer Brunnen gestanden hat? Eben jenen Ort, an welchem du als Kind immer auf die unsicheren Backsteine geklettert bist.

Jeden Abend, wenn in der Ferne die Sonne langsam vom Horizont verschwindet, werde ich an diesem Ort auf dich warten.

Pass auf dich auf, meine Kleine.

In Liebe, deine Großmutter.

Amanda L. Mithran

Schattenschimmer Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt