Das Geheimnis

49 6 6
                                    

KÖNIGLICHER ERLASS ZUR BRAUTSCHAU FÜR PRINZ LEONARD

Seine Majestät, König Gisir I., der Gütige und Gerechte, unumschränkter Herrscher des Reiches und Bewahrer des Friedens, veranstaltet in seiner Großzügigkeit Feste und Spiele aller Art im Vorfelde zur Feier des neunzehnten Jahrestages seines einzigen Sohnes und Erben, Prinz Leonard. Im Rahmen dieser Feierlichkeiten wird seine Majestät König Gisir die zukünftige Gemahlin unseres Kronprinzen, und somit die zukünftige Königin des Reiches, erwählen. Zu diesem Zwecke mögen sich alle Jungfrauen des Königreichs zwischen sechzehn und achtzehn Jahren zwei Wochen vor dem achten Monde am Königsschloss einfinden, unbesehen ihrer Herkunft und ihres Standes, ob adelig oder bürgerlich. Eine vollständige Teilnahme wird erwartet.

Wenn das ein Scherz ist, dann wird jemand dafür hängen.

Ungläubig lese ich den Text ein zweites Mal. Doch, darunter prangt das offizielle Siegel des Königshauses aus schwarzem Wachs mit der glänzenden Krone in der Mitte. Ich trete ganz nah heran und fahre mit dem Finger über das Blattgold der Krone. Es ist echt. Kein Zweifel. Und so frisch, wie es aussieht, hängt das Plakat noch nicht lange da, auf der Bretterwand vor dem Dorfbrunnen.

Der Prinz ... mir wird bewusst, dass ich noch nie ein Bild von ihm gesehen habe. Auf den wenigen Bildern in unseren Schulbüchern war immer nur König Gisir allein zu sehen: breit und kräftig, mit sehr hellen Haaren und einem leicht schiefen Kinn, in seinem goldenen Königsmantel. So habe ich ihn vor Augen.

Moment, ein Bild des Prinzen gibt es. Ich stelle meinen Korb hin, krame in meiner Schürzentasche und fische eine der kleinen Kupfermünzen heraus. Prinz Leonards Porträt ist darauf geprägt, im Alter von drei Jahren. Weshalb gibt es nirgendwo Bilder der kompletten königlichen Familie? Auch von Königin Eugenia habe ich noch nie eins zu Gesicht bekommen. Solche Fragen stellt man hier am besten nicht laut. Was der König wünscht (oder nicht wünscht), wird nicht infrage gestellt. Das ist oberstes Gesetz. Für Ungehorsame und Tratschmäuler steht der Pranger gleich neben dem Galgen auf dem Hügel nördlich vom Dorf.

Also eine Brautschau. Dunkel erinnere ich mich, dass Mutter mir von einer solchen erzählt hat, damals, als König Enrik, der Befreier, eine Braut für seinen Sohn, unseren heutigen König Gisir, suchte. Zu jener Zeit durften natürlich nur Adelige teilnehmen. Und dieses Mal also alle. Weshalb sollte der König auch nur daran denken, seinen Sohn mit einem einfachen Dorfmädchen zu verheiraten? Da muss etwas anderes dahinterstecken, sicher nichts Gutes.

Dennoch ... gedankenverloren blicke ich auf das schwarze Siegel. Vor meinen Augen erscheint das Königsschloss, ich male mir all die vornehm gekleideten Damen aus, wie sie dort stehen, in Samt und Seide gekleidet, kichernd und tuschelnd die Ankunft des Prinzen erwarten. Daneben sehe ich mich. In meinem geflickten Rock und der Bluse mit den zu kurzen Ärmeln und den Holzpantoffeln. Meine langen rotbraunen Haare zu einem schlichten Zopf geflochten, statt zu einem juwelengeschmückten Lockenturm hochgesteckt. Und da kommt er, eine schattenhafte Gestalt, fast so groß wie Vater, die goldene Krone des Siegels ziert sein Haupt. Die Damen halten die Luft an, klimpern mit den Wimpern, doch er geht an all diesen aufgeputzten Schönheiten vorbei, bleibt vor mir stehen, reicht mir die Hand und führt mich zum Tanz.

Ich seufze und schüttele den Kopf. Woher kommt dieser Blödsinn denn auf einmal? So etwas passiert vielleicht im Märchen, aber sicher nicht im wahren Leben. In meinem Leben. Wie auch? Nein, ich bin nicht auf der Suche. Nicht nach einem Mann, geschweige denn nach einem Prinzen. Vor allem nicht nach dem Sohn des Schattenkönigs, wie wir den König im Geheimen zu nennen pflegen. Gütig und gerecht? Von wegen! Und sein Sohn wird kaum besser sein.

In diesem Moment sehe ich Severin und seine Gesellen aus dem Heilerhaus kommen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich bin ohnehin schon zu spät dran. Noch haben sie mich nicht entdeckt. Ich halte instinktiv die Luft an, schnappe meinen Korb und laufe über den Platz zum Seiteneingang des Wirtshauses ,Zum Fetten Ochsen'. Geschafft. Dieses Mal bin ich entkommen. Mein Atem beruhigt sich langsam wieder.

Schattenthron. Das Mädchen mit den goldenen Augen. LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt