37 Jahre zuvor ...
Eine gespenstische Stille lag über dem Thronsaal. Selbst die Wachsoldaten in ihren blank polierten Rüstungen schienen den Atem anzuhalten, als Ivald vom Haushofmeister bis zu den Stufen am Kopfende des Saales geleitet wurde. Sir Bertold, sonst die steife Förmlichkeit in Person, unnahbar wie ein Klumpen Granit, trippelte über den goldfarbenen Teppich, statt zu stolzieren.
Beim Blick auf das Gesicht des Monarchen verstand Ivald Sir Bertolds Vorsicht nur allzu gut. Tiefe Falten hatten sich in Enriks Stirn gegraben, seine Mund war nicht mehr als ein schmaler Bogen, dessen Enden grimmig nach unten wiesen, und seine buschigen Brauen bildeten eine einzige Linie. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt stapfte er hinter den Lehnen der beiden Throne hin und her, als gelte es, mit seinen Ledersohlen Löcher in den Stein zu treten.
„Sire", Sir Bertold räusperte sich und klopfte mit dem Zeremonienstab auf den Stein der ersten Treppenstufe. „Sire!"
„Was will Er?" Der König machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu drehen. „Haben Wir Ihm nicht gesagt, dass Er alle Besucher abweisen möge? Ist Er nicht fähig, Unserem Wunsch Folge zu leisten?"
Bei jedem Wort sackten Sir Bertolds Schultern tiefer. „Sire, es ist Meister Ivald", sagte er mit verzweifeltem Unterton. „Ihr hattet verlangt, dass er sofort zu Euch geführt würde."
„Ivald!" Der König unterbrach seine Wanderung, schnellte herum und fixierte den Neuankömmling mit eisigem Blick. „Er ist tatsächlich zurückgekehrt."
„Ich habe Euch mein Wort gegeben, Majestät", entgegnete Ivald und verbeugte sich langsam, die Hände nach hinten gestreckt, um den Korb auf seinem Rücken festzuhalten. „Und hier bin ich, gerade rechtzeitig, um Euch zur Geburt Eures Sohnes zu gratulieren."
„Rechtzeitig?" Der König spie das Wort förmlich in den Saal. „Rechtzeitig wäre bei seiner Geburt gewesen! Ehe die Unfähigkeit dieser elenden Stümper meine Königin die Gesundheit, ja vielleicht gar das Leben kostet."
Enrik fuhr sich mit beiden Händen durch die ergraute Mähne. „Wenn ich sie zu Grabe tragen muss, wird das Kind ihr sicher bald folgen." Die letzten Worte hingen wie ein Donnergrollen in der Luft, während sich der König an der Lehne seines Thrones abstützte, sein Gesicht eine aschgraue Maske.
„Mein König", der Zwerg senkte den Kopf tiefer, um seine Betroffenheit kundzutun, „mein König, ich ahnte nicht ... ich wusste nicht ..." Die gelbbraunen Augen unter dem Gestrüpp seiner Brauen schossen hin und her, als ringe er mit sich selbst, wäge eines gegen das andere ab. Seine Hand zupfte an den braunen Bartzöpfen, während sein Unterkiefer nervös mahlte, vielleicht drei Atemzüge lang. Dann richtete er sich auf. „Mein König, lasst nicht alle Hoffnung fahren! Es könnte sein, dass mir auf meiner Reise etwas untergekommen ist, das die Königin zu retten vermag."
„Die rote Wunderblume?" Mit neuer Kraft erfüllt, sprang der König die Stufen hinab und schloss seine Hand um Ivalds Oberarm. „Er hat die Blume aus den Legenden gefunden?"
„Nein, nein!" Ivald hob beschwichtigend die Arme und wand sich geschickt aus des Königs Griff. „Etwas anderes, unerprobt, ist es. Ein Wunder kann und will ich nicht versprechen. Gewährt mir einen Blick auf die Königin und Euren Erben, damit ich abwägen kann, ob ich zu helfen vermag."
„Den soll Er haben und was immer Er sonst noch braucht." Der König winkte einem Diener. „Er da, nehme Er Unserem gelehrten Gast das Gepäck ab!"
Der Angesprochene wieselte herbei und griff nach dem Korb auf Ivalds Rücken. „Lasst mich das für Euch tragen, Meister Ivald."
„Rühr ihn nicht an!" Ivald drehte sich blitzschnell zur Seite und stieß die ausgestreckte Hand des Dieners rüde beiseite. Der sog erschrocken die Luft ein, und die Falten auf der Stirn des Königs vertieften sich, woraufhin sich Ivald räusperte und zu ihm sprach: „Mein König, vieles habe ich auf meiner Reise gesammelt und notiert. Wenn mir dort jemand Unordnung bereitet, finde ich am Ende gar das richtige Mittelchen nicht. Ich trage mein Eigentum daher lieber selbst." Er packte die schwere Ledertasche.
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Schattenthron. Das Mädchen mit den goldenen Augen. Leseprobe
FantasíaEin verfluchtes Reich Ein grausamer König Ein Prinz, der keine Gefühle zu kennen scheint Und ein Mädchen, das ein tödliches Geheimnis hütet Gefährliche Prüfungen Mysteriöse Kreaturen Düstere Schauplätze Und eine Liebe, die alles verändern könnte... ...