Das Geheimnis Teil 3

25 3 0
                                    

Wieder in der Gegenwart. Ausschnitt aus einer späteren Szene.

[...] Ich achte nicht sonderlich auf den Weg, während ich durch den Wald laufe und über meinen merkwürdigen Streit mit Gisela grüble. Ein Jahr nur, ein einziges Jahr hat gereicht, sie derart umzudrehen. Meine beste, nein, halt, ehemals beste Freundin hat sich in eine oberflächliche, arrogante, herzlose Speichelleckerin verwandelt. Und ich ... ich habe geglaubt, Gisela arbeite so hart an der Heilerschule, dass sie keine Zeit hat, mir zu schreiben. Ich hätte viel früher misstrauisch werden müssen.

Erst als ich auf den Wildwechsel stoße und den grauen Felsen mit der verkrüppelten Fichte vor mir sehe, bemerke ich, dass ich in meiner Wut nicht auf den Weg geachtet habe und viel zu weit nach Osten gelaufen bin. Mist! Auch das noch! Als wäre der Tag bisher nicht schon schlimm genug gewesen. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, und im Licht der Abenddämmerung sind Wurzeln und Steine nur noch schwer zu erkennen.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als rasch wieder umzukehren. Dabei fällt mein Blick auf eine kränkliche Buche. Die Ausbuchtungen da oben bei der Astgabel, sind das nicht ...? Ich laufe hin, und tatsächlich: Zunderschwämme. Gleich drei, nein, vier der schönen, gebänderten Baumpilze. Solche habe ich neulich erst auf dem Markt gesehen. Für zwei Silber das Stück! Der unterste der Schwämme dürfte nur zweieinhalb, drei Meter vom Boden entfernt sein. Ein echter Glücksfall.

Eilig schüttle ich die Holzpantoffeln von meinen nackten Füßen und suche den Stamm nach Kletterhilfen ab. Es sieht gut aus, er bietet ausreichend Aststümpfe und Löcher, um meinen Zehen und Fingern Halt zu geben.

Im Dämmerlicht taste ich nach meinem Haarknoten und stecke zwei der Nadeln um. Ich hasse es, wenn sich beim Klettern die Haare in den Zweigen verheddern. Zuletzt binde ich den Rock mit einem Lederstreifen hoch, trete dicht an den Stamm heran und strecke mich, um den ersten Stumpf zu greifen.

Kurze Zeit später mache ich es mir in der Astgabel bequem. Vorsichtig beuge ich mich vor und breche den Baumpilz behutsam von der Borke.

Gerade als ich das letzte Stück in meine Rocktasche schiebe, höre ich unter mir jemanden lachen. „Was haben wir denn da für ein Eichhörnchen?"

Jerome. Ich schlucke den Fluch hinunter, der mir auf den Lippen liegt, und stürze fast ab, als ich hastig wieder herunterklettere. Und bin trotzdem nicht schnell genug - er hat sich breitbeinig unten aufgebaut, einen toten Hasen in der linken Hand, dessen Kopf seltsam am Hals baumelt. Jerome muss ihm das Genick gebrochen haben.

Armes Ding. „Ein kleines Präsent für den hübschesten Rotschopf des Waldes", sagt er und drückt mir das leblose Fellbündel in die Arme, kaum dass meine nackten Sohlen das Moos berühren.

„Danke, nein und nein, danke!" Ich lasse den Hasen ins Gras fallen. An Jeromes Gürtel hängt das zusammengeraffte Netz, mit dem er ihn wohl gefangen hat. Ich wünsche mir einen Eimer heißes Wasser und viel Seife, um den Geruch nach Schmerz und Tod von meiner Haut zu bekommen. Meine Finger zittern, als ich die Arme verschränke, so zuwider ist mir Jeromes Nähe.

„Weshalb machst du nicht Gisela einen Antrag? Sie ist wieder im Dorf und sieht umwerfend aus."

„Na und?" Er beugt sich vor, sodass sein Gesicht meinem ganz nahe ist. Angewidert weiche ich zurück, bis mein Rücken gegen den Buchenstamm stößt. „Ich habe doch schon eine Verlobte, nämlich dich, meine Schöne."

Verdutzt starre ich ihn an, während er mit der Hand durch seine geölten Locken streicht.

„Deine Eltern sind mir vor Dankbarkeit fast um den Hals gefallen, als ich um deine Hand angehalten habe. Noch diesen Sommer wirst du meine Frau."

Mein Herz beginnt zu rasen, und kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ich weiß, wie sehr mein Vater sich wünscht, dass ich in gute Hände komme. Würde er sogar so weit gehen ...?

Aber nein, sie wissen, wie sehr ich auch nur den Anblick von toten Tieren verabscheue, und Jeromes Leidenschaft fürs Töten ist wahrlich kein Geheimnis. Zudem haben meine Eltern ein gutes Gespür für Menschen und würden niemals zulassen, dass jemand wie Jerome herausfindet, welcher Schatten auf mir liegt, und dadurch Macht über mich gewinnt. Oder?

Aber Jeromes siegessicheres Lächeln kann mich nicht täuschen. „Lügner", zische ich ihm ins Gesicht und versuche, mir meine Zweifel nicht anmerken zu lassen. „Meine Eltern würden niemals jemandem wie dir meine Hand versprechen." Und richtig, in Jeromes linker Wange zuckt ein Muskel. Den Tick hatte er schon als Kind, und ich weiß ihn zu deuten. Ich habe recht. Rasch lege ich nach: „Sie haben dich abgewiesen, nicht wahr? Sie wissen, ich würde dich selbst dann nicht nehmen, wenn du ein Prinz und der einzige Junggeselle im Reich wärst!"

„Das werden wir noch sehen!", zischt er. Ehe ich begreife, was er vorhat, hat er mich an den Oberarmen gepackt und drückt mich gegen den Stamm. „Du willst es ja nicht anders", stößt er wütend hervor. In seinen stumpfen Augen bildet sich ein glutroter Punkt. Er lacht, als ich mich in seinem Griff winde. Sein Atem stinkt nach Alkohol. Noch stärker jedoch ist der Geruch nach Blut und Tod, der nicht nur von dem Hasen kommt. Auch Jeromes Kleider und seine Hände riechen danach. Wie viele Tiere hat er seit heute Morgen getötet? Ich würge.

„Schaffen wir Tatsachen, dann bleibt dir keine Wahl!", verkündet er. Was er damit meint, wird mir schlagartig klar, als er die feuchten Finger seiner rechten Hand zwischen die Knöpfe meiner Leinenbluse zwängt. Mit dem linken Unterarm drückt er meine Schultern gegen den Baum. Ein Knopf platzt auf. Einen Augenblick später spüre ich, wie sich seine groben Finger um meine Brust schließen und sie zusammenquetschen. Ich ziehe scharf die Luft ein, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.

„Das magst du, oder?" Jerome lacht dreckig. „Und wie ist es damit?" Er drängt ein Bein zwischen meine Schenkel. Ich versuche, mich wegzudrehen, doch er ist viel stärker als ich. Panik überrollt mich, verzweifelt schnappe ich nach Luft. Wehr dich! Wehr dich!, schreit ein Teil von mir und hämmert an die Tür, hinter der mein Zorn gefangen ist, und plötzlich ist meine Stimme wieder da.

„Lass mich los!", quetsche ich zwischen den Zähnen hervor, dann nehme ich alle Kraft zusammen und drücke ihn von mir weg, sodass ich einen Fuß frei bewegen kann. Leider wird mir erst wieder bewusst, dass ich meine Pantoffeln ausgezogen habe, als meine Zehen gegen sein Schienbein prallen.

Jerome zuckt nicht einmal zusammen. „Uh, hat sich das kleine Eichhörnchen wehgetan?", spottet er. „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du meine Füße küssen vor Dankbarkeit und nicht nur das!"

Seine Hand packt mein Kinn, und er presst seinen Mund auf meinen, während seine Finger erneut im meine Bluse gleiten. Dieses Mal tiefer. Gleichzeitig reibt er seine Zunge gegen meinen Gaumen. Er schmeckt nach Alkohol und altem Fleisch, schleimig süß und widerwärtig. Ich muss erneut würgen und beiße zu. Mit einem Schmerzensschrei presst er die Hand auf seinen Mund und holt mit der anderen aus, um mich zu schlagen. Aber er ist zu langsam. Ich ducke mich darunter hinweg und ramme ihm mit aller Kraft meinen Ellbogen in den Magen. Überrascht japst er nach Luft und stolpert einen Schritt zurück. Mir bleiben wenige Augenblicke, mich zu entscheiden. Heftig atmend balle ich die Fäuste und rufe mein anderes Ich herbei, denn barfuß und bei Dunkelheit werde ich ihm nie entkommen.

Nicht als Mensch.

... Wie geht es weiter? Das erfahrt ihr am ersten Juli in eurer Buchhandlung!

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 03, 2017 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Schattenthron. Das Mädchen mit den goldenen Augen. LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt