1. Das neue Heim

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»Wollen Sie mal etwas Gruseliges hören?« Die alte Frau mir gegenüber grinst zahnlos.

Mir ist schon jetzt mulmig. Normalerweise gebe ich nichts auf Ammenmärchen, aber diese seltsame Dame, die ab heute meine Nachbarin ist, wirkt wie eine Hexe aus dem Mittelalter mit ihren krausen weißen Haaren, der großen Nase und den tiefliegenden Augen.

»Nicht unbedingt«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Man munkelt, dass dort eine Frau in Ihrem Alter gestorben ist.«

Wie kann man nur grinsen, während man so etwas sagt? Ich starre sie an und warte auf die Erlösung.

Sie giggelt und hält sich die Hand vor den Mund. »Oh, meine Liebe, das haben Sie mir doch nicht geglaubt?! Entschuldigen Sie bitte, manchmal sitzt mir der Schalk im Nacken.« Noch immer kichert sie.

»Witzig«, sage ich matt und würde am liebsten mit einem gemeinen Spruch antworten, aber meine gute Kinderstube gebietet mir Einhalt. »Danke jedenfalls, dass Sie mich willkommen geheißen haben.« Hoffentlich versteht sie, dass das eine Verabschiedung war.

Die Dame nickt. »Wenn Sie mal etwas brauchen, kommen Sie einfach zu mir, ich habe fast alles.«

Vor meinem inneren Auge sehe ich förmlich ein mit allen möglichen Dingen vollgestelltes Haus, in dem von Schrauben über Backförmchen bis hin zu Stricknadeln alles zu finden ist. Womöglich sogar Dinge, über die ich gar nicht Bescheid wissen will.

Ich bedanke mich und schließe endlich die Tür. Ah, diese wunderbare Stille. Genüsslich atme ich mit aller Kraft ein, fülle meine Lungen, bis sie sich nicht mehr weiter ausdehnen können, und lasse die Luft mit einem Seufzen wieder hinaus. Heute heiße ich niemanden mehr willkommen.

Bevor ich das alte Haus gekauft habe, war mir nicht bewusst gewesen, wie ungewöhnlich das auf andere wirkt. Eine alleinstehende Frau im besten Heiratsalter will sich in einer spießigen Nachbarschaft selbst um Haushalt, Wartung und Garten kümmern? Meine Nachbarn rollen vermutlich hinter den Jalousien ihrer Fenster mit den Augen.

Ich beginne meinen ersten Abend als Hausbesitzerin mit einem Glas Weißwein und einem Liebesfilm. Schon jetzt kommt mir mein Haus unheimlich bekannt vor, als würde ich schon immer hier wohnen. Während draußen die Sonne untergeht und mein neues Wohnzimmer in sanften Orange- und Rottönen bemalt, kullern mir Tränen über die Wangen, weil die Heldin des Films sich zwischen ihrem Kind und ihrer großen Liebe entscheiden muss.

Zeit, ins Bett zu gehen. Auf meinem Weg meistere ich den Hindernisparcours aus Umzugskartons, halb aufgebauten Schränken und Dingen, die ich im Dämmerlicht des Mondes kaum erkennen kann. Es wird mir kein zweites Mal passieren, dass ich vergesse, zuallererst Glühbirnen im Haus anzubringen, ehe ich auch nur einen Karton auspacke. Gleich morgen wird der Baumarkt ein Vermögen an mir verdienen.

Mein Bett besteht heute lediglich aus der Matratze, die im provisorischen Schlafzimmer liegt. Ich kuschele mich in die Bettdecke, lausche noch ein wenig den Geräuschen um mich herum und schlafe wenig später ein.

Ich träume von einer jungen Frau, die in meinem Wohnzimmer tot von der Decke baumelt und wälze mich wild im Bett herum, bis ich aufwache. Verdammte alte Nachbarin. Völlig durchgeschwitzt stehe ich auf, tapse ins Badezimmer und trinke einen Schluck Wasser, als ich plötzlich Kinderlachen höre.

Quatsch.

Ich lausche noch einmal, kann aber nichts mehr hören. Vermutlich war es der Wind oder meine wirre Fantasie. Mit spitzen Fingern streife ich mir das nasse Shirt vom Körper und suche im Dunkel den Karton mit meinen Klamotten. Da – wieder ein Lachen! Glockenhell und unschuldig. Mir läuft Gänsehaut über den Rücken. Kann man sich so etwas einbilden? Wo kommt das her?

Eleonores LachenWhere stories live. Discover now