3. Im Wohnzimmer

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Es muss weitere Hinweise geben. Wer auch immer dieses Kinderlachen produziert hat – war es vielleicht mein Unterbewusstsein? – will mir damit etwas sagen, da bin ich mir ganz sicher. Hätte ich sonst das Bild gefunden? Als ich noch einmal in die Schublade sehe, ist das Bild verschwunden. Was stimmt denn hier nicht, verdammt nochmal? Ich glaube nicht an Übersinnliches, es muss eine logische Erklärung für das alles hier geben.

»Was geschah nach dem Brand?«, frage ich mich laut, um meine Nerven zu behalten. Ich muss herausfinden, was passiert ist! War ich im Krankenhaus? Bin ich vielleicht doch verrückt geworden? Ein neuer Schwall Tränen sammelt sich hinter meinen Augen, als mir bewusst wird, dass ich mich noch nicht einmal an die Beerdigung meiner kleinen Tochter erinnern kann, an die von meinem Mann ganz zu schweigen.

Ich durchsuche den Sekretär nach weiteren Hinweisen, finde aber nichts. Auch im Büro selbst kann ich keine Spuren entdecken, also gehe ich hinaus in den Flur. Warum höre ich Ellis Lachen nicht mehr? Wenn ihr Lachen doch nur noch ein einziges Mal den Raum füllen würde! Dieses engelsgleiche, unschuldige Kichern, wenn ich vor ihrem Bettchen Grimassen gezogen habe und sie belustigt »Mama!« gerufen hat. Gott, wie ich sie vermisse. Warum ist meine ganze Erinnerung in Nebelschwaden gehüllt? Ich fühle mich, als wäre meine Vergangenheit ein einziges schwarzes Loch, das sämtliche Momente und Gedanken aufsaugt und vernichtet.

Draußen setzt zum Sturm nun auch Regen ein. Kleine Tropfen prasseln an die Scheiben und untermalen damit die aufkeimende Panik in meinem Brustkorb. Ich weiß genau, dass etwas Schreckliches passiert ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich auf der Straße stehen, eingehüllt in eine feuerfeste warme Decke, in der Obhut eines Feuerwehrmannes, der mir verspricht, dass sie meine Familie retten werden. Die Flammen schlagen aus dem Dachstuhl und erhellen die Regennacht. Alle Nachbarn sind herbeigeeilt, allerdings wohl eher aus Sensationslust denn aus Mitgefühl. Sie ignorieren mich weitestgehend, was mir recht ist, denn ich fühle mich wie betäubt. Mir fällt ein, dass Eddy, die alte Dame von gegenüber, zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte. Wie kann es sein, dass ich mich heute noch mit ihr unterhalten habe?

Mein Baby ist in den Flammen. Der Gedanke ist da, aber so weit weg, dass ich ihn gar nicht verstehen kann. Irgendwann wird mir Schwarz vor Augen und ich kann mich an nichts weiter erinnern.

»Denk nach!«, rufe ich mir selbst zu und schlage mit aller Kraft gegen die Wand, die nur ein dumpfes »Flomp« erwidert. Eigentlich müsste meine Hand weh tun, aber ich spüre kaum etwas.

War ich im Krankenhaus? Bin ich entlassen worden? Habe ich hier weiterhin gelebt oder wollte ich das Haus verkaufen? Und warum bin ich jetzt wieder hier, wenn ich doch schon früher hier gewohnt habe? Die Schwärze hüllt mein Gedächtnis ein wie Tinte.

Ich starre auf die Wohnzimmertür.

»Ich bin zurückgekommen und habe alles leer vorgefunden«, flüstere ich und versuche, die Vergangenheit zu rekonstruieren. »Meine Eltern haben meine Sachen gepackt, weil ich nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen wollte, aber dann bin ich doch hergefahren, um mich von euch zu verabschieden.« Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich nach dem Brand hier im Flur stehen. »Nein, nicht verabschieden.« Ich drehe mich um und suche mit den Augen den Flur ab. An der Wand steht der Einbauschrank, in dem das Seil war.

»Ich habe das Seil genommen«, sage ich, als müsste ich mir selbst erklären, was dann passierte, dabei weiß ich es wieder. Und ich ahne, was ich sehen werde, wenn ich jetzt in das Wohnzimmer gehe.

Das Seil ist längst nicht mehr im Wandschrank. Mit der Taschenlampe suche ich nach der Klinke und öffne die Holztür zum Wohnzimmer, darauf gefasst, meinen von der Decke baumelnden Körper zu sehen. Ich konnte nicht weiterleben ohne die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Doch es baumelt niemand von der Decke.

»Mama!« Eleonore lacht und rennt auf mich zu. »Mama, endlich!«

Gustav wischt sich Tränen aus den Augen. »Wir haben so lange auf dich gewartet, mein Schatz. Endlich sind wir wieder vereint.«

Eleonores LachenWhere stories live. Discover now