"Wo in Teufels Namen steckt Rabe schon wieder?!", donnerte Kralle.
Ihr Gebrüll erschreckte die neun-jährige Fine so sehr, dass sie ihren Korb mit Frischfisch fallen ließ. Die Anführerin der Ausseneinsatztruppe der 'Front' sprang mit einem gewaltigen Satz von dem hoch gelegenen Felsen und landete direkt vor der zitternden Gefangenen. Sie federte weich in den Knien nach und funkelte Fine aus ihren Schlitzförmigen Pupillen an.
"Was fällt dir ein, du undankbares Biest!?" wetterte sie.
"T-tut mir leid. Ich konnte nichts dafür, ich habe mich nur erschreckt...", stotterte die Kleine.
In Kralles Augen funkelte die blanke Wut. Ihr drohendes Knurren schien die Luft beben zulassen.
Finnick bemerkte den Blickwechsel zwischen seiner Sklaventreiberin und seiner Schwester. Als sich Kralle gerade zum Sprung bereit machte, warf er seinen Korb zu Boden und hechtete heran. Er warf sich zwischen Kralle und Fine, die erschrocken die Augen aufriss.
Kralle hatte ihre Hände verkrümmt und die spitzen Fingernägel in die Kehle des Jungen gerammt. Er sackte auf die Knie und dann zu Boden.
"Kralle? Sollen wir ihn sterben lassen?" fragte ein hagerer Mann.
Kralle leckte sich genüsslich Finnicks Blut von den Fingern. "Nein, Zauderzahn. Er ist ein wertvoller Mann für den Kampf. Bringt ihn in die Box!"
Fine erschauderte und Finnick stöhnte gequält auf, aber er konnte sich kaum noch bewegen. Eine Älteste kam angewackelt und bedeckte Finniks klaffende Wunden mit einigen Spinnenweben. Er selbst verzog angewiedert das Gesicht, als er die klebrigen Fäden auf der Haut spürte.
Drei kräftige Männen traten zu ihnen.
"Fichte, Quelle, Stein: Bringt ihn in Box D!"
"Da drin ist schon Samantha!"
"Dann in die E. Na wirds bald!?"
"Ja. Natürlich!"
Die drei Männer hoben den Verwundeten an und trugen ihn in Richtung der Ruinen davon.
Fine schrie und tobte "Lasst ihn los! Ihr Schweine! Lasst ihn verdammt nochm - " Weiter kam sie nicht. Kralle hatte ihr eine übergezogen und das Mädchen sank bewusstlos zu Boden.
Finnick hatte keine Kraft mehr, um sich zu wehren.
Und gegen die drei starken Männer wäre er sowieso im Leben nicht angekommen. So ließ er sich einfach tragen. Er bekam nicht mit, dass Kralle seine Schwester erledigte. Er hörte nur, wie sie plötzlich aufhörte zu schreien und blinzelte.Die Box war eine Art Glaskasten. Man wurde in ihm mit Gurten fest geschnallt und an winzige, dauerpiepende Geräte angeschlossen, die einem echt den letzten Nerv rauben konnten.
Er lag nicht das erste Mal in Der Box. Kurz nach seiner Gefangennahme hatte er schonmal zwei Nächte im Glaskasten verbringen müssen. Bei der Erinnerung daran wurde ihm sofort wieder kalt.
* * *
Schon nach wenigen Minuten setzten die Wahnvorstellungen ein.
Finnik meinte seine Mutter zu sehen. Sie saß im Schneidersitz auf der Box, also direkt über ihm, und schaute ihn so merkwürdig an, wie sie es immer getan hatte, wenn er sich gegen irgendetwas aufgelehnt hatte. Finnick war schon immer ein rebellisches Kind gewesen, das war ihm klar, aber dennoch kam er auf diesen Blick partout nicht klar. Er stemmte die Handflächen gegen das Panzerglas. Er meinte die alte Frau heiser lachen zu hören. Fast als wolle sie sagen: "So schnell kommst du hier nicht raus! Wir haben noch eine Rechnung zu begleichen!"
Finnick erschauderte. Er blinzelte und sah für einen kurzen Moment wieder klar. Er sah wie Quelle neben ihm zur Wache Platz nahm und er sah Samantha in Box E. Sie hatte die Augen geschlossen. Aber sie schlief nicht. In dieser Kiste zu liegen, war wie Drogen genommen zu haben. Insofern konnte Samantha also keinesfalls eingeschlafen sein. War sie tod? Finnik hatte schon oft davon gehört, dass man vor Angst sterben konnte, aber er hielt es insgeheim für ein Gerücht.
Lange hatte Finnik nicht Zeit, um darüber nachzudenken, was das Mädchen neben ihm wohl gerade durchlebte, denn der Wahn holte ihn wieder ein. Er hörte ein dumpfes Klopfen am Kasten, dann das von ihm so verhasste, quitschende Kratzen von Fingernägeln über Glas. Er erschauderte und schloss hastig die Augen.
Als er sie wieder öffnete, zuckte er zusammen. Eine Fratze starrte ihn durch das dicke Glas an.
Finnick erkannte ihn nicht sofort, doch als er es dann endlich tat, war der Schock noch enormer.
"Yves..." presste er mit zitternder Stimme hervor. Er röchelte den Namen nue leise und sein Herz schlug so laut, dass er sich kaum selbst hören konnte.
Yves krabbelte mit verkrümmten Händen über die Box und entblöste spitze, fingerlange Zähne als er die blutigen Lippen zu einem metallisch klingenden Lachen öffnete.
Die Narbe über der linken Augenhöhle, das fehlende Auge, die metallischen Geräusche und die halbaufgerissene Halsschlagader sprachen Bände.
Finnick begann zu zittern, als er realisierte, dass dieser Anblick keine Wahnvorstellung war. Yves war nun einer von ihnen.
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Die Front
FantasyWir nehmen was uns gehört und das, was wir gerne hätten. Unser Sein ist geheim. Unser Platz der Schatten. Niemals werden wir weichen. Wir töten oder werden getötet. Jeder für sich, keiner für alle. Aber wir alle schützen das Geheimnis unserer Art. ...