Kapitel 2

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Tiago umklammerte das abgegriffene Holz vor ihm. Er war verstummt und trotzdem war er wie ein aktiver Vulkan, der gleich beginnen würde seiner Wut freien Lauf zu lassen. Bitterkeit und Trauer, Angst und Hilflosigkeit, all das vermischte sich in ihm zu einem wilden Gefühlscocktail. Nur etwa 20 Meter vor ihm lag sein Bruder, schwächelnd im eigenen Blut. Tiago zitterte und die Hitze in ihm schien unerträglich. Getroffen spurtete er zu dem halbtoten Jungen am Boden, dessen Gesicht aschfahl und so blass wie der Mond war. Er setzte sich neben ihm am Boden ab und merkte wie das warme Blut um seine Knie sickerte. "Das kann nicht sein. Nicht du. Nicht jetzt.", wimmerte Tiago Rui entgegen, der nur schwach seine Augen offen halten konnte.

Martim stand regungslos da. Er war still. Schien endlich mundtot zu sein. Seine aufgerissenen Augen waren starr auf die Brüder gerichtet und in seinen Händen baumelte das blutverschmierte Messer. Ihm war es zu viel. Was er da getan hatte, war ungerechtfertigt. Ein Leben zu beenden, das konnte nicht er gewesen sein, er hat nicht die Fähigkeit dazu, dachte er. Soetwas kann doch nur Gott.

Er wollte weg. Weg von diesem Ort, weg von dem, was sein Werk geworden ist. Martim rannte um den bläulichen Ford und in die Siedlung. Noch weiter hinfort, dachte er. Er konnte hier nicht weiterhin leben.

Tiago beugte sich so nah über seinen Bruder, dass er dessen leichten Atem auf den Wangen spürte. "Tiago", begann Rui zittrig,"hol Hilfe. Aber bleib bei mir. Schrei einfach." Und das tat er schon instinktiv. Er stand auf und rief mit voller Brust in die Dunkelheit herein. Tiago hörte das Knarren von Türen und sogleich stürmten Leute, Männer, Frauen und Kinder den Platz und Jivo, ein kleiner Mann mit massigen Schultern und rundem Kopf kniete sich neben die Beiden. "Verdammt, was ist hier passiert? Ach egal, los, er muss zu Kato!", sprudelte es aus ihm heraus. Tiagos Mund war so trocken und seine Zunge fühlte sich wie Schmirgelpapier an. Er half wo er nur konnte, doch sah er immer in die Augen seines schwachen Bruders.

Jivo und er nahmen Rui und schleppten ihn zu einer Plastikliege. Sie beeilten sich und rollten ihn so schnell sie konnten durch die verwinkelten Häuserreihen. Die kühle Nachtluft blies umher und trug die wabernden Rauchschwaden von den Verbrennungsplätzen mit sich. Es war ein stechender Geruch, welcher Ammoniak glich und das Atmen schwerer machte. Rui war noch bei Bewusstsein und drückte einen schon längst blutgetränkten Stofffetzen auf die Wunde.  Bei jeder Unebenheit im Boden stöhnte er auf, doch Jivo und Tiago hatten die Schaulustigen hinter sich gelassen und bogen in einen schmalen Seitenweg ein. Abrupt blieben sie vor einer Hütte stehen und wuchteten Rui in sie hinein. Drinnen waren Kerzen aufgestellt, die nur spärliches Licht auf die Gesichter der Menschen warfen, die verteilt auf Sitzkissen warteten. Unter ihnen war Kanto, ein alter Arzt, mit langer, schiefer Nase und spitzzulaufendem Kinn. Er knetete nervös seine Hände und redete mit seiner Partnerin Alfania.

"Ah. Schnell, schnell!", sagten sie im Chor und wedelten wild mit den Händen. Sie legten Rui auf den Tisch.

Kato und Alfania standen sofort auf und begannen das feuchte Hemd von Ruis Haut zu schälen. Tiago stand in der Ecke und starrte leer in den Raum.

Jivo schaute verängstigt drein und packte Tiago an den Schultern. "Nein. Komm! Das ist besser für uns, lassen wir sie alleine!" Aber er wollte nicht. Er wollte sehen, was sie mit seinem Bruder machten. Jivo zerrte ihn nach draußen und dort fing Tiago schlagartig an zu weinen. Er konnte nicht mehr. Wusste seine Mutter denn schon Bescheid? Zuviel passierte. Sein Vater und seine Lügen, die Zukunft, sein halbtoter Bruder. Er schmeckte seine salzigen Tränen, die über seine Lippen rannen. Still und total fertig, ließ er sich an der Hüttenwand nieder. Sein Kopf kippte vornüber und mit einem Mal wallte die Dunkelheit über ihn her.

Rui. Ich bin da. Bei dir. Du bist voller Blut, weißt du das?  Weißt du,  dass du vielleicht schon tot bist? Ich bin es, Tiago. Ich bin da um zu helfen. Wirst du's schaffen? Ich will nichts anderes, außer die Gewissheit, dass du bleibst. Bei uns, bei Mama, bei mir. Verstehst du? Wir brauchen dich. Wir können nicht ohne dich. Aber ich will ja helfen! Wie kann ich das? Sag es mir! Oder willst du keine Hilfe von mir? Bin ich so ein schlechter Bruder?

Sanft glitt diese Stimme wie eine Welle durch Tiagos Kopf bis er ruckartig hochschreckt und sieht, wie seine Mutter weinend auf ihn zugestürmt kam. " Er schafft es. Dein Bruder lebt."

Tiago & Pokasa, eine Reise in die EwigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt