IN DEN BÜGELN ihrer Brille sind drei falsch funkelnde Steine eingelassen. Links fehlt der letzte. Die zerstörte Symmetrie macht mich nervös.
Mrs. Simmons Anzeige im Internet hatte drei Dinge versprochen, die mich dazu bewegt hatten, sie als meine neue Psychologin auszuerkehren:
1. Professionalität
2. Diskretion
3. Erfolg.
Die Dinge, die ich bei ihr bis jetzt nicht gesehen hatte, waren:
1. Professionalität
2. Diskretion
3. Erfolg.
In Angesicht dieser enttäuschenden Tatsachen hatte ich mich bei den letzten Treffen eher auf die Brille der älteren Dame, Flecken an der Tapete oder ihre furchtbare Karobluse konzentriert. Gerade jetzt sind es die Handgelenke, die aus ihren Ärmeln hervorragen. Sie sind schmal, beinahe fragil und wirken, als könnte ich sie mit einem Griff zerbrechen. Die faltige Haut um ihre Knochen macht mich nervös. Alles an dieser Frau macht mich nervös.
„Nun, Ms. Lewis, ich denke wir können eines mit Sicherheit feststellen." Sie räuspert sich bedeutungsvoll und ich richte meinen Blick auf ihr Gesicht. Dabei meide ich ihre Augen. Mir fällt auf, dass ich nicht einmal weiß, welche Farbe sie haben.
„Und das wäre?"
Mrs. Simmons schiebt ihre Brille ein Stück weiter nach oben. Das Licht spiegelt sich in dem fehlenden Schmuckstein. „Sie sind offensichtlich nicht an einer Therapie interessiert."
Ich lehne mich weiter zurück in die knarzende Polsterung des Stuhles. Mein Rücken tut weh.
„Gut erkannt."
Sie nickt bedeutungsvoll. „Und warum sind sie dann hier?"
„Sie gehen ins Internet? Sehen fern?", frage ich, sobald ich meine Stimme wieder gefunden habe.
„Nein. Ich besitze keinen Fernseher." Mrs. Simmons' Gesicht ziert ein zu siegessicheres Lächeln. „Sie werden mir schon selbst erzählen müssen, was geschehen ist."
Meine Kehle schnürt sich zusammen bis zu dem Punkt, an dem das Atmen schwer wird. In meiner Brust brüllt es. „Niemals."
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Meine Stiefel sind bereits nach einem Viertel des Weges zur Bahnstation vollkommen durchnässt. Es regnet nicht mehr, doch in den kleinen Tälern des Asphalts haben sich Seen gesammelt. Anders als diese Pfützen, die grau und dunkel vor mir liegen, ist der Himmel mittlerweile wieder in einem hellen Blau gezeichnet und lässt mich betrogen fühlen. Es ist, als hätte er mich um den Regen betrogen und nur mit den hässlichen Überresten allein gelassen, eine Sache, die zu oft in meinem Leben vorkam. Folgen ohne Ursachen stapeln sich in jeder Ecke meiner Wohnung.
Und sie begrüßen mich auch jetzt, als ich nach einer stillen Fahrt mit zu lauten Gedanken eintrete und die Schuhe in der Diele weitertropfen lasse. Die Jacke hänge ich ordentlich auf. Schließlich ist sie trocken. Es riecht nach Einsamkeit und Erdbeermarmelade.
Die Wände flüstern seit drei Wochen die selben Worte. Ich vermisse Harry ich vermisse Harry ich vermisse Harry. Rosa trifft auf Grün, und ich habe Angst, zu vergessen. Manchmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich seine Lieblingsfarbe noch erkennen würde.
Ich denke darüber nach, wie alles nach Tränen schmeckt, wenn man weint. Wenn meine Kehle sich zusammen zieht und die Tropfen von meinen Wangen fallen, aber ich sie nur beim Schlucken schmecke. Alles schmeckt nach Traurigkeit, wenn man weint. Die Wolke in meiner Brust dehnt sich aus.
Ich habe eine Theorie, eine Theorie über das, was in uns ist. Das Meiste haben Wissenschaftler schon vor Jahren herausgefunden, als sie tote Körper auseinandergerissen haben mit ihren bloßen Händen. Aber das was in meiner Brust liegt, das werden sie auch nicht finden, wenn sie mich bis auf die Knochen auseinandernehmen. Denn jeder von uns trägt ein Stück des Himmels in uns. Und wenn wir traurig sind, dann wird die Wolke in unserer Brust größer und grauer und drückt auf unser Herz, bis es ganz klein wird, und schrumpelig, und nur noch weh tut.
Es tut weh in meiner Brust. Seit Harry weg ist, ist der Himmel nicht einmal aufgezogen. Ich fühle mich krank, nur noch krank, und schlimmer noch, auf die Art, die niemand sieht.
Ich vermisse Harry. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen, ich will nur noch schlafen. Ich bin müde. Die Wolke in meiner Brust ist grau und fett und macht das Atmen schwer und langsam. Mein Kopf wird mit jedem Tag schwerfälliger.
Mir ist schwindelig. Die Luft ist abgestanden und fahl, kein Sauerstoff ist mehr übrig. Ich entscheide, dass ich hier raus muss. Jedes Möbelstück irritiert mich, das Licht ist zu grell.
Der Himmel ist immer noch blau, doch jetzt sehe ich grau-weiße Wolken im Hintergrund, die kalte Luft mit sich bringen werden. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre hinauf, bis meine Augen tränen. Durch diesen Schleier sehend gehe ich weiter, bis ich merke, dass meine Füße sich nicht mehr ganz gerade aufsetzen lassen.
London ist schön, aber London ist auch voll und sehr, sehr lebendig und ich fühle mich nicht lebendig genug heute, um weiterzugehen, also bleibe ich stehen, mitten auf der Waterloo Bridge und lausche dem Wasser der Themse. Leben ist einfach; Leben ist hart.
Leben zog sich hin, in den letzten Wochen war es öde und langwierig, kurzweilig. Leben gab mir den letzten Rest.
Ich vermisse Harry. Meine Finger schließen sich um die oberste Sprosse des Geländers, über den Regentropfen, die gesprenkelt darauf verteilt sind. Sie zerbersten unter meinen Händen und meine Schuhspitzen stoßen über den Rand der Brücke. Ich atme ganz, ganz tief ein und stelle mir vor, wie die Luft sich verbreitet darin, was von meinen Lungen noch übrig ist.
Ich vermisse Harry. Es zerrt an meinem Herzen, inständig und unaufhaltsam. Meine Fingerknöchel werden weiß, so sehr halte ich mich fest. Der Wind lässt meine aufgerissenen Augen wieder tränen und ich sehe die Lichter Londons. London ist schön. London ist tödlich.
Plötzlich verwandelt sich der dunkle Fluss unter mir in eine Straße, lang, gerade und staubig. Sie hat kein Ziel. Ich spüre den ersten Regentropfen auf meiner linken Hand.
Ich vermisse Harry. Der Himmel stimmt mir zu. Mit einem Mal ist mir alles auf eine überwältigende Art und Weise klar; die letzten Wochen war mein Blick vernebelt gewesen, düster und matt, doch jetzt hatte sich dieser Nebel gelichtet. Mein Gehirn präsentiere mir die Lösung in so klaren Strukturen, dass es beinahe weh tut. Ich ziehe meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und umklammere ihn einmal fest, bevor ich die klimpernden Teile mit ausgestreckter Hand von mir weg halte. In meiner Handfläche brennen die weißen Abdrücke der Schlüsselzähne. Ich lasse los. Es dauert genau vier Sekunden, bis ich ein platschendes Geräusch höre.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Jetzt muss ich es tun.
Ich stemme mich hoch und schwinge nacheinander beide Beine über die Brüstung. Der Wind zerrt an mir. Ich spüre den zweiten Tropfen, den dritten. Sie sagen mir, was ich längst nicht mehr hören brauche. Ich habe mich immer noch nicht verändert, kein einziges Stück; nicht seit er weg ist.
Die Straße vor mir erstreckt sich weiter, ein Abbild meiner Seele. Sie ist ziellos und leer. Mittlerweile regnet es heftiger, ich höre den Donner von Weitem und muss schlucken. Meine Kehle fühlt sich rau an, so lange habe ich nicht mehr geredet.
„Ich hasse dich", schreie ich, heiser und verzweifelt. „Ich hasse dich ich hasse dich ich hasse dich!"
Der Donner hört mich nicht. Ich habe es aufgegeben, nach ihm zu rufen, denn er hört mich nicht. Keiner von ihnen.
Gleichzeitig mit dem ersten Blitz lasse ich los. Ich habe Blitze immer gemocht; sie verstehe ich. Sie liebe ich. Aber nach einem Kreischen sind sie immer vorbei und ich schließe meine Augen. Es dauert keine vier Sekunden. Dann sehe ich auch keine Blitze mehr.
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Long Way Home {coming early '18}
Fanfiction"And there's one thing I can tell you for sure; we are going to take the long way home." Über Liebe, Einsamkeit und die Kunst, nach Hause zu finden. {WARNUNGEN: Verlust, Depression, Selbstmord.}