Ein Wiedersehen

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Disclaimer: Lucy, Lockwood und die Handlung gehören Jonathan Stroud und sind von mir nur ausgeliehen!
Lockwoods Gedanken gehören allerdings mir

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Ein Wiedersehen

Nervös stand ich vor ihrer Tür. Wie sie wohl reagieren wird, wenn sie mich sieht.
Irgendwie traute ich mich nicht zu klingeln. Immerhin hatte sie gekündigt und mich verlassen. Schon bekannte Wut stieg in mir auf. Was wäre, wenn ich mich nicht mehr beherrschen könnte und sie anschreien würde?
Ich wollte gerade wieder gehen, als ich eine Tüte mit Kleidung bemerkte. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass es ihre Sachen waren. Plötzlich wollte ich sie unbedingt wiedersehen. Ich hob die Tüte auf und legte meine Hand auf die Klingel. Kurz zögerte ich noch, aber dann drückte ich energisch auf den Klingelknopf.
Nach ein paar Augenblicken öffnete sie die Tür. Als sie mich erkannte, erstarrte sie mitten im
Gähnen. Ich lächelte sie warm an, als sie mir in die Augen schaute. Tatsächlich hatte sich meine ganze Wut sobald ich sie gesehen hatte in Luft aufgelöst.
„Hallo, Lucy", begrüßte ich meine ehemalige Kollegin. „Hallo...Tach.", erwiderte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
„Entschuldige die frühe Störung", sagte ich höflich und schob dann noch ein „Du bist wohl gerade erst aufgestanden" hinterher.
Ich hatte auf den ersten Blick gesehen, dass sie noch ihren Schlafanzug trug, aber jetzt musterte ich sie noch einmal genauer. Sie trug, wie schon gesagt, einen Schlafanzug. Dieser war total ausgeleiert und in einem hässlichen Grauton. Ihr Gesicht war fleckig und sie hatte dicke Ränder unter den Augen. Insgesamt also ziemlich erschöpft und ausgelaugt. Wahrscheinlich hatte sie eine anstrengende Nacht hinter sich. Trotz allem fand ich, dass sie irgendwie ... süß aussah.
Plötzlich reckte Lucy den Hals und spähte an mir vorbei ins Treppenhaus. Ich hatte so eine Ahnung nach was sie suchte. Trotzdem fragte ich: „Stimmt was nicht?"
Lucy holte tief Luft und versicherte mir mehrfach, dass alles gut sei.
„Freut mich. Ach übrigens, das hier lag auf der Fußmatte."
Ich konnte mir ein Grinsen gerade noch so verkneifen, als ich die durchsichtige Plastiktüte hinter meinem Rücken hervorholte.
„Sieht nach frisch gebügelten...äh...Sachen aus. Ich weiß nicht, ob es dir..."
Sie starrte die Tüte an und stotterte dann endlich: „Das...das muss meinem Nachbarn gehören. Ich meine meiner Nachbarin. Ich kümmere mich nämlich um ihre Wäsche."
Sie riss mir die Tüte aus der Hand und schmiss sie hinter sich. Mir war sofort klar, dass sie log. Das konnte sie noch nie gut. Deshalb hakte ich noch nach: „Du kümmerst dich um die Unterhosen deiner Nachbarin? Was ist das denn für ein Haus?"
„Es...also ich..."
Ich hatte sie scheinbar ziemlich aus der Fassung gebracht. Auf einmal tat sie mir leid. Ich wollte gerade etwas entschuldigendes sagen, als sie wieder normal reden konnte.
„Lockwood, was willst du eigentlich hier?"
Na toll. Jetzt kam der unangenehme Teil. Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf. Das konnte ich jetzt nämlich wirklich gut gebrauchen.
„Ich wollte nur mal vorbeischauen und mich vergewissern, dass es dir gut geht."
Erstmal langsam anfangen. Aber da ich wusste, dass sie mir das nicht abkaufen würde, setzte ich noch schnell ein „und ich wollte dich etwas fragen" hinterher.
Mein Blick glitt in ihr Zimmer. Alles lag wild auf dem Boden verstreut und der Müll stapelte sich neben dem Mülleimer.
„Aber nur, wenn du gerade einen Augenblick Zeit hast."
Ich wollte ihr wenigstens die Chance geben, mich dieses Chaos nicht noch genauer sehen zu lassen.
„Äh, klar. Klar hab ich Zeit. Dann...dann komm doch rein."
Höflich bedankte ich mich und trat ein. Mein Blick wanderte erneut durch ihre Wohnung.
„Hier wohnst du also", sagte ich.
Lucy sah sich ebenfalls um. Sie schien die Unordnung zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.
Kurz war ich von dem großen Geisterglas abgelenkt, dass an einer Wand stand. Sie hatte den Schädel damals aus der Portland Row mitgehen lassen. Derselbe schaute mich übrigens gerade mit großen Augen an.
Schließlich räusperte ich mich und sagte: „Äh...nett hast du's hier."
Lucy schien ihre Gedanken wieder ordnen zu können. Sie bedankte sich wohlerzogen und bot mir einen Sitzplatz an.
Letzteres stellte sich jedoch als ziemlich schwierig heraus, da sie scheinbar überall peinliche Sachen zu entdecken schien.
Schließlich ging ich mit den Worten, dass ich auch stehen könne, zum Fenster.
Nachdem wir ein bisschen Small Talk über die Gegend betrieben hatten kochte Luce uns Tee. Damit gab sie mir, wenn auch unwissend, die Zeit, nachzudenken.
Sie hatte mich freundlich empfangen und nicht weggeschickt. Das war mehr, als ich mir je erhofft hatte. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung, dass sie meine Bitte annahm.
Lucy brauchte zum Tee kochen ungewöhnlich lange. Scheinbar war sie ziemlich nervös. Schließlich fing sie an über die Schulter irgendwelches unzusammenhängendes Zeug zu reden. Dann fragte sie: „Nimmst du inzwischen Zucker in den Tee?"
Es verschlug mir die Sprache. Ich hätte nicht gedacht, dass mich so eine einfache Frage mal so verletzen könnte. Mit ausdrucksloser Miene schaute ich auf den Boden.
„Es ist erst vier Monate her, Luce. Wieso sollte ich meinen Tee plötzlich mit Zucker trinken?"
Ich brauchte dringend einen Themawechsel. Darum stieß ich mit dem Schuh das Geisterglas an und fragte: „Wie geht's denn unserem alten Freund?"
Lucy schien auch erleichtert über den Themenwechsel zu sein und antwortete:
„Dem Schädel? Ach, der unterstützt mich ab und zu bei einem Einsatz, aber abgesehen davon spreche ich kaum noch mit ihm."
Auf diese Worte hin regte es sich in dem trüben Gewaber hinter der Glaswand. Anscheinend schien auch diese Aussage von Lucy nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen.
Während Lucy die Milch aus dem kleinen Kühlschrank holte erkundigte sie sich, ob ich inzwischen einen neuen Agenten angestellt hätte. Ich war entsetzt. Als ob wir sie einfach so ersetzen würden. Schnell verneinte ich, aber so, dass es danach klang, als ob ich darüber nachgedacht hätte.
Luce sah kurz erfreut aus. Ihr lag also noch etwas an uns.
Dann redeten wir eine Weile über George und seine Experimente. Irgendwann setzten wir uns doch noch hin.
Eine peinliche Pause entstand, doch das Gespräch, welches ich daraufhin anfing, war auch nicht wirklich angenehmer. Und zu allem Übel fing dann auch noch der Schädel an, komische Grimassen zu ziehen, was Lucy auch noch zu ärgern schien.
Schließlich kamen wir auf den Grund meines Besuchs zu sprechen.
„Ich möchte dich als Freiberuflerin zu einem Fall hinzuziehen."
So, jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass Luce einverstanden war.
Es herrschte Stille. Meine Gedanken wanderten zu jenem Tag zurück, an dem sie gegangen war.
Ich sah mich wieder mit ihr duch den Park gehen, während ich versuchte, ihr ihren Entschluss auszureden. Ich durchlebte noch einmal unser letztes Gespräch im Café, bei dem drei Tassen Tee hintereinander kalt wurden und ich schließlich so sauer wurde, dass ich einfach ging. Ich rief mir ihren letzten Abend in der Portland Row ins Gedächtnis, an dem wir so distanziert und höflich miteinander umgegangen waren wie Fremde, und sah wieder vor mir, wie ich am nächsten Morgen aufwachte, und unter Tränen realisierte, dass sie nicht mehr da war.
Lucy fing an tausende Argumente aufzulisten, warum es unmöglich wäre, dass sie meine Bitte annahm. Sie erinnerte mich an den Grund für ihre Kündigung, welchen ich nie ganz verstanden hatte. Wenn sie nicht mehr mit uns arbeiten konnte, weil sie angeblich Angst hatte, dass sie ihre Gabe nicht mehr richtig kontrollieren könnte, wieso konnte sie dann noch für andere Argenturen hervorragende Arbeit leisten. Ihre Argumente waren wirklich schlecht und das sagte ich ihr auch, wenn auch nicht so unfreundlich. Außerdem sagte ich noch schweren Herzens:
„Ich bitte dich ja nicht darum, wieder fest bei uns einzusteigen. Das würde ich nicht wagen. Es geht nur um eine vorübergehende Mitarbeit, nichts anderes, als wenn du für Bunchurch oder Tendy oder all die anderen arbeitest, die dich in den letzten Wochen engagiert haben. Die Sache ist rein geschäftlich, weiter nichts."
Sie weigerte sich immer noch und sagte, dass wir sie doch eh nicht bräuchten.
Also versuchte ich sie mit meinem letzten und besten Argument zu überzeugen.
„In einem Punkt hast du recht: Lockwood & Co. hat in letzter Zeit einen Aufschwung erlebt, sodass wir uns die Klienten jetzt aussuchen können. Es sind ein paar interessante Fälle dabei, wie zum Beispiel die blinde Damenschneiderin, die trotz ihres Handicaps Geistererscheinungen sieht, aber unser neuester Fall ist ein anderes Kaliber. Du kennst die Klientin sogar. Es ist Penelope Fittes."
Lucys Gesichtsausdruck war Gold wert. So eine lustige Mischung aus geschockt und überrascht.
„Äh...hat sie nicht zufällig eine eigene Agentur? Sogar eine ziemlich große?"
Luce hatte scheinbar dieselben Gedanken, wie ich, als ich das erste mal davon hörte.
Ich sagte ihr also die Begründung, die uns Fittes auch gegeben hatte. Außerdem noch, dass wir jemanden bräuchten, dessen Spezialgebiet das Hören ist.
Daraufhin schwieg Lucy erstmal und rutschte nur nervös auf ihrem Stuhl rum.
Als ich schon dachte, dass sie zustimmen würde, fing sie wieder mit den Argumenten an, die mich vorher schon nicht überzeugt hatten. Aber ich musste sie einfach überreden mir zu helfen.
„Ich will dich nicht unter Druck setzen, Luce. Mir ist klar, dass ich hier einfach so hereinplatze – aber falls du dir Gedanken über das Risiko machst, kann ich nur sagen, ich glaube nicht, dass irgendetwas schiefgeht. Die Chance ist wirklich sehr gering – sie geht im Grunde gegen null. Mag ja sein, dass du vor ein paar Monaten eine schlechte Phase hattest, aber ich persönlich fand schon immer, du hast deine Gabe bemerkenswert gut im Griff. Ich glaube nicht, dass du uns irgendwie in Gefahr bringst. Dafür bist du eine zu starke Persönlichkeit. Okay – aus irgendeinem Grund wolltest du unser Team verlassen. Wir sind eine Last für dich geworden, die du nicht länger tragen konntest. Daher hast du überstürzt gekündigt, was für dich bestimmt genauso schwierig war wie für uns. Ich will dir nichts vormachen. Lockwood & Co. hatte an deinem Weggang ganz schön zu knabbern. Vor allem George war ziemlich durch den Wind.." Ich senkte den Blick auf meine Hände. „Und genauso wenig will ich dir die gemischten Gefühle ausreden, die du bei meinem Vorschlag bestimmt empfindest. Eine Nacht lang wieder als Team zusammenzuarbeiten, dürfte für uns alle seltsam sein, aber für dich ganz besonders. Trotzdem halte ich dich für stark genug, dein Unbehagen zu ignorieren, wenn du der Meinung bist, das Richtige zu tun. Es ist doch nur eine einige Nacht, Luce, das ist doch wirklich keine große Sache. Vielleicht geht es uns danach allen ein bisschen besser."
Ich sah sie an. Wenn sie jetzt ablehnen würde, wäre ich todtraurig. Es ging mir doch nicht nur um den Auftrag. Ich wollte ihr doch nur eine Nacht wieder nahe sein. Ihr konzentriertes Gesicht sehen, wenn wir kurz davor sein würden, die Quelle ausfindig zu machen. Aber ich hatte alles gesagt, was ich zu sagen hatte.
Ich sah wie sie mit sich kämpfte. Schließlich sagte sie: „Es gibt noch mehr Hörende in London. Darunter auch sehr fähige."
Mein Herz zersplitterte in tausend Teile.
„Zum Beispiel?"
„Kate Godwin ist nicht schlecht."
Das konnte doch nicht ihr Ernst sein? Sie verglich sich mit diesen mittelmäßig begabten Kindern?
Schnell redete ich ihr den ganzen Blödsinn wieder aus.
Lucy zeigte sich jedoch immer noch nicht bereit, meine Bitte zu erfüllen. Also gab ich mich geschlagen und stand auf.
„Ist schon gut, Lucy. Ich verstehe, dass du nicht zusagen willst, und nehme es dir überhaupt nicht übel. Ich geh dann mal wieder und sag den anderen Bescheid."
Ich ging mit hängenden Schultern zur Tür. Doch auf einmal sagte Luce doch noch etwas:
„Na ja...ein Auftrag von Penelope Fittes könnte eine gute Werbung für mich sein."
Ich blieb stehen. „Allerdings."
„Und du sagst, meine Mitarbeit wäre wirklich eine Hilfe für Lockwood & Co.?"
„Ja. Eine große Hilfe." Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.
„Wenn es bei diesem einem Mal bleibt..."
„Ganz bestimmt." Wieso musste sie das nur so lange herauszögern.
„Und wenn euch meine Gabe wirklich von Nutzen sein kann..."
„Ich wüsste niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte." Das stimmte. Ich würde sie am liebsten festhalten und nie wieder gehen lassen.
Lucy dachte lange nach. Dann kam, endlich, meine Erlösung.
„Na schön", sagte sie munter. „Du weißt aber, dass sich mein Stundensatz erhöht hat?"
Sie redete noch mehr so unnützes Zeug, aber ich hörte ihr gar nicht zu, so glücklich war ich.
Als sie endlich mit reden fertig war, bedankte ich mich überschwänglich.
„Vielen, vielen lieben Dank, Lucy. Ich hab's ja gewusst, dass du uns nicht hängen lässt!"
Ich lächelte sie breit an.

Mit hüpfendem Herzen ging ich durch die belebten Straßen Londons, zur Portland Row. Das Grinsen wollte mir gar nicht mehr aus dem Gesicht gehen.
Es hatte zwar lange gedauert, aber letztlich hatte ich doch mein Ziel erreicht.
Ich hatte sie wieder...
Meine Lucy!

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