Kapitel 1

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Nour war auf dem Weg nach Hause oder besser gesagt in ihre Wohnung. Zu Hause fühlte sie sich dort ganz und gar nicht. Hinter ihr lag eine zehn Stunden Schicht in der Wäscherei und sie war hundemüde. Während sie im Dämmerlicht des Sonnenaufgangs die Gassen entlang schlenderte, sann sie über ihr Leben nach. 
Warum war sie hier? Sie hasste ihren Job und wirklich Geld brachte er auch nicht. Durch die schlechte Bezahlung konnte sie sich nur ein kleines Einzimmerappartement leisten, dass in einer Bruchbude von Plattenbau war. Es gab zwar einen kleinen Balkon, aber dieser grenzte nur mit einem halben Meter Abstand an das Nachbargebäude. Wirkliche Frischluft oder Privatsphäre bot er nicht.

Nour lebte, um zu arbeiten und alle Welt sagte ihr, dass das gut war. Sie war mit blauen Augen geboren worden und damit eine echte Enttäuschung für ihre Eltern gewesen. Als sich ihre Augen auch mit zwei Jahren nicht in das erhoffte Grün umgefärbt hatten, verloren ihre Eltern die Geduld. Sie gaben Nour in ein Pflegeheim und überließen sie dem Schicksal. Nour konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Das tröstete sie ein wenig, denn so gab es wenigstens keine Gesichter in ihrem Kopf, auf die sie hätte sauer sein können.

Da Nour blaue Augen hatte, war sie auch von niemandem adoptiert worden, wie so viele andere Kinder in ihrem Pflegeheim. Früh war sie aus der Schule genommen worden und einem Lehrbetrieb übergeben worden. In Blauäugige wurde nicht groß investiert. Sie galten als weniger intelligent, sodass auch die beste Bildung bei ihnen verschwendet war. Stattdessen lernten sie früh einfache Berufe. Nour war bei einer Schneiderin untergekommen, die sie zur Wäscherin und Färberin ausgebildet hatte.

Madam Zick war nett gewesen und hatte Nour freundlich aber distanziert behandelt. Als ihre Ausbildung vorbei war, hatte Nour allerdings darum gebeten den Betrieb zu verlassen, um selbständiger zu werden. Madam Zick hatte sie mit hohem Bogen rausgeworfen und sie keines Blickes mehr gewürdigt. „Scher dich zum Teufel!", hatte sie ihr noch hinterhergerufen.

Das war der Startschuss zu Nours verkorkstem Leben geworden. Niemand wollte sie so recht einstellen, sodass sie von Großkonzern zu Großkonzern als Wanderarbeiterin weitergereicht wurde. Heute war sie bei EPAG untergekommen. Morgen und für die kommenden fünf Wochen würde sie bei ULAP arbeiten. Schon jetzt hatte sie keine Lust auf das obligatorische Gespräch mit dem Vorarbeiter am ersten Arbeitstag.

Meistens waren das Grünäugige, die in die mittlere Führungsebene aufgestiegen waren und alle unter ihnen terrorisierten. Sie galten als gute Vermittler zwischen Braun- und Blauäugigen, da sie Teile von beiden Seiten in sich vereinten. Aber häufig waren es einfach nur arrogante Arschlöcher.

Nour kam bei ihrer Wohnungstür an. Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss und wollte ihn gerade umdrehen, als sie von hinten angetippt wurde.

„Frau Nour, ich benötige die Miete", sagte eine raue Stimme fordernd. Nour drehte sich genervt um. Noch im Schwung setzte sie ihr bestes Lächeln auf. „Bitte Herr Nimm, ich muss noch den Scheck einlösen, dann kann ich ihnen die Miete überweisen. Aber heute hatte ich die Nachtschicht und die Banken hatten schon zu, als ich den neuen Gehaltsscheck erhalten habe." Nour holte tief Luft. „Kann ich Ihnen das Geld morgen geben?" 
Tino Nimm schaute Nour tief in die Augen. Ihr blau war so intensiv, dass es ihn fast zu durchdringen schien. Obwohl seine Mieterin freundlich lächelte, wusste er genau, dass er sie nervte. Es war eine anstrengende Aufgabe die Miete einzutreiben. Aber Nour hatte immer bezahlt, wenn auch nicht immer pünktlich, daher gewährte er ihr den Aufschub. „Na gut, aber morgen bekomme ich das Geld."
„Ja, natürlich Herr Nimm. Morgen bringe ich es Ihnen vorbei." Nour ließ den Schlüssel im Schloss klicken und drückte die Tür nach innen auf. Ihr Vermieter befand sich schon im Rückzug, sodass sie sich wegdrehte und ihre kleine Wohnung betrat. Innen sackte sie gegen die Tür und begann zu weinen. Ihr Leben war einfach nur schrecklich und es gab keinen Ausweg. Bis zu ihrem sinnlosen Tod würde sie ackern ohne selbst davon zu profitieren. Ihre sarkastische Seite jubelte innerlich verächtlich.

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