Im Zimmer war es unerträglich heiß. Die Sonne schien durch die Ritzen einer brüchigen Jalousette, die zwar einen Großteil des Licht, jedoch nicht die Hitze draußen halten konnte. Nour schlug genervt die Bettdecke beiseite und ging zum Ventilator. Seine Wirkung war gering. Erst als Nour direkt vor ihm stand, spürte sie den Luftzug. Ihre schweißnasse Haut nahm die Kühlung dankbar an und eine Gänsehaut bildete sich.
Nour hatte es nur mit Müh und Not bis zu ihrem Bett geschafft und sich dort in den Schlaf geweint. Aber schon kurze Zeit später war sie aus einem äußerst unruhigen Traum aufgewacht und hatte die Hitze des Tages zu spüren bekommen. Es waren noch viele Stunden bis zu ihrer nächsten Schicht, die sie eigentlich am liebsten verschlafen wollte. Aber bei der Wärme war daran nicht zu denken. Alternativen gab es jedoch kaum. Geld, um zu essen hatte sie keines, Hobbies konnte sie sich nicht leisten und einfach nur Spazieren zu gehen stimmte sie zu grüblerisch. Also blieb sie in der Wohnung und machte das Beste daraus. Zunächst gönnte sie sich eine Dusche und zappte danach durch den schlechten Fernsehempfang. Hin und wieder nickte sie weg und vergaß ihre Sorgen.
Ein Klopfen riss Nour aus ihrem Dämmerschlaf. Sie schrak auf und schaute zur Tür. Wahrscheinlich war es wieder Herr Nimm, der nun doch schon die Miete haben wollte. Nour bewegte sich nicht vom Fleck und wartete, bis sie sich entfernende Schritte hören konnte. Stattdessen klopfte es jedoch erneut. Eine junge Frauenstimme meldete sich: „Nour. Bitte mach auf. Ich mach mir Sorgen um dich. Komm schon, ich weiß, dass du da bist." Nour stöhnte genervt, stand aber auf und öffnete die Tür. Sie begrüßte ihren Besuch nicht, sondern sank sofort wieder auf ihrem Sessel zusammen. „Du meine Güte Nour, wie sieht es denn hier aus?" Isabella schaute sich angeekelt im Zimmer um. „Du musst dringend aufräumen." Nour brummte nur. „Was denn, keine Begrüßung?" Isabella blieb hartnäckig. Sie war Nours älteste und einzige Freundin. Sie kannten sich seit der Ausbildung. Isabella war ein Lehrjahr vor Nour gewesen, aber nach Ende der Ausbildung bei Madame Zick geblieben. Der Abschied von Isabella war damals das Schlimmste an Nours Entscheidung gegen eine Arbeit bei Madame Zick gewesen. Aber irgendwie waren sie in Kontakt geblieben.
„Jetzt komm schon", nörgelte Isabella. „Was willst du von mir hören, Isy? Ein Hallo wie gehts dir? Mir gehts super und so eine Scheiße? Das pack ich heute nicht." Nour war genervt, das Letzte was sie jetzt gebrauchen konnte war ihre sogenannte Freundin, die ihr eine Standpauke hielt, weil sie sich mit ihrer gesellschaftlichen Situation abfinden und einfach glücklich sein sollte. „Geht es schon wieder um deine Augenfarbe? Nour, wir haben doch schon darüber geredet. Du hast nunmal blaue Augen und so wirst du von den Menschen gesehen. Sieh es endlich ein. Du bist so geboren und basta." Nours sprang auf: „Raus!", schrie sie. Mit einer plötzlich vorhandenen Energie bugsierte sie ihre Freundin aus der Wohnung und schmiss die Tür ins Schloss. So etwas ließ sie sich nicht gefallen. Nicht sie war engstirnig, sondern die Welt, die sie nur wegen ihrer Augenfarbe für minderwertig hielt und ihr nichts zutraute. Wenn sie doch bloß grüne oder gar braune Augen hätte. Der Ventilator trocknete Nours Tränen im Nu.
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Die Fenster zur Seele
Teen FictionNour lebt in einer Welt, in der die Augenfarbe das Leben eines Menschen bestimmt. Sie selbst hat blaue Augen und gehört damit der Unterschicht an. Doch anders als andere Menschen, nimmt Nour ihr Schicksal als Wanderarbeiterin nicht an. Sie will mehr...