1. Kapitel

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Ich starrte wie hypnotisiert aus dem Fenster auf die an mir vorbeirauschende Landschaft. Ich sah nicht wirklich, was da an mir vorbeizog. Der einzige Grund, warum ich aus dem Fenster des Wagens starrte war, dass ich nicht meinen Vater anschauen wollte, der seit fünf Stunden hinter dem Steuer saß. Wir hatten uns die ganze Zeit nicht unterhalten. Am Anfang hatte er noch versucht ein Gespräch zu beginnen, doch irgendwann hatte er aufgegeben und war in ein unsicheres Schweigen verfallen. Hier saß ich nun also, im Auto meines Vaters, den ich neun Jahre lang nicht gesehen habe und fuhr meinem neuen Zuhause entgegen. Ich hasste den Gedanken daran die neue Familie meines Vaters kennenzulernen. Meine Mutter hatte mir in den letzten Wochen ihres Lebens immer versucht einzureden, dass ich dort glücklich werden würde. Ich glaube aber, dass sie sich das nur selbst eingeredet hat. Ich werde nicht glücklich werden in irgendeinem Dorf in der Pampa, bei einer neuen Familie, auf einem Reiterhof. Ich meine ich hasse Pferde und ich hasse kleine Dörfer im Nirgendwo. Und wenn wir schon dabei sind, Ich hasse auch meinen Vater.

Als wir nach sechs Stunden tatsächlich angekommen sind, fühlt sich mein Mund staubtrocken an und ich muss wirklich dringend auf die Toilette. "Du wirst jetzt gleich meine Frau Vicky und deinen Bruder Paul kennenlernen. Und wir werden dir die Pferde und den Reitplatz zeigen. Natürlich wirst du auch das Haus sehen und na ja, wenn du willst gehen wir durch den Ort..." Ich stieg einfach aus ohne weiter auf meinen Vater zu achten. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass ich auf einem Hof stand, wie man ihn in kleinen Dörfern eben so sieht. Rechts von mir stand ein altes Fachwerkhaus mit Blumenkästen an den Festern, in denen rote und orangene Blumen wuchsen. Sehr romantisch alles, aber mich nervte diese Tatsache nur noch mehr. Neben dem Wohnhaus, wie ich annahm, befand sich ein niedrigeres Gebäude mit einem Großen Scheunentor. Gegenüber sag ich ein moderneres Gebäude, was ziemlich lang war. 

Meine Umgebungserkundung wurde von einer Frau abgelenkt, die direkt auf mich und meinen Vater zuhielt. An ihrer Hand lief ein kleiner Junge, der meinem Vater so schockierend ähnlich sah, dass es sich nur um seinen kleinen Sohn Paul handeln konnte. Die Frau blieb lächelnd vor mir stehen. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie sich zu einem Zopf geflochten, der über ihrer Schulter lag. Sie trug Jeans und ein kariertes Hemd, das an den Ärmeln hochgekrempelt war. "Hallo Mara. Ich freue mich so dich zu sehen. Ich war den ganzen Tag schon sehr gespannt dich endlich kennenzulernen. Ich bin Vicky." Sie machte einen Schritt auf mich zu, um mich zu umarmen, doch ich machte schnell einige Schritte zurück. Ich wollte nicht von dieser Frau mit dem Dauerlächeln umarmt werden und so tun, als wäre alles in Ordnung. Denn eigentlich war nichts in Ordnung. Ich wollte einfach nur weg und wieder nach Hause zurück, nur dass mein Zuhause nicht mehr existierte.
Jetzt sah Vicky ein wenig verunsichert aus, doch sie fing schnell wieder und redete fröhlich weiter, "das ist Paul. Er ist fünf Jahre alt und etwas schüchtern", der kleine Junge versteckte sich halb hinter dem Körper seiner Mutter. Er sah meinem Vater mit seinen strohblonden Haaren und den braunen Augen wirklich sehr ähnlich. "Mein älterer Sohn Mark kommt erst etwas später. Wir können dann zusammen Erdbeerkuchen essen. Ich habe extra gebacken." Während sie erzählte, folgte ich ihr in das Wohnhaus. So wirklich hörte ich ihr nicht zu. Der Flur war schmal und dunkel und führte in eine typische Bauernküche an die sich ein Wohnzimmmer anschloss. Die Möbel waren etwas altmodisch, aber insgesamt fand ich es relativ gemütlich, wie ich zugeben musste. Im Haus roch es tatsächlich nach frisch gebackenem Kuchen. Im ersten Stock lag mein Zimmer gegenüber des Bades und direkt über der Küche. "Wir haben die Möbel schonmal hingestellt, aber natürlich kannst du es jederzeit ändern, wenn es dir nicht gefällt" erläuterte mir Vicky, als sie die Tür zu meinem Zimmer öffnete.

Ich stellte fest, dass mein neues Zimmer um einiges größer war, als das Zimmer bei meiner Mutter. Mein Bett, mein Schrank und mein Regal waren da. Genauso, wie mein Schreibtisch, der vor dem Fenster stand und mein schwarzer Flauschteppich. An der einen Seite des Zimmers waren die unausgepackten Umzugskisten gestapelt, die alle fein säuberlich beschriftet waren. " Ich wäre jetzt gerne einen Moment alleine." Es war das erste mal seit meiner Ankunft, dass ich sprach. "Ja klar. Wir sind schon weg. Falls du bei irgendetwas Hilfe brauchst sind wir unten." Damit verschwanden Vicky und mein Vater und ich war zum ersten Mal heute alleine.
Es fühlte sich an, als würde ich ins bodenlose fallen. Ich sah mich in meinem neuen Zimmer um. Obwohl es meine Möbel waren, die hier standen, fühlte ich mich vollkommen verloren. Das hier fühlte sich einfach nicht vertraut an. Nein im Gegenteil, es fühlte sich schrecklich falsch und einsam an. Das einzige was ich noch wollte, war mich in mein Bett zu legen und zu schlafen. Doch ich konnte nicht schlafen. Das einzige was ich tat, war auf meinem Bett zu liegen und Löcher in die Luft zu starren. Die Zeit zog an mir vorbei, wie Kaugummi. Ich hatte das Gefühl von ihr eingewickelt zu werden. Sie schlang erbamungslos ihre Arme um mich und drückte mir die Luft ab. 

Mein Geist war seit meiner Ankunft in eine Art Erstarrung verfallen und diese löste sich erst, als ich unten die Haustür hörte. "Ich bin zuhause" rief eine mir unbekannte Stimme durch das Haus. Meiner Vermutung nach musste das Mark, mein anderer "Bruder" sein. Nicht dass ich die zwei männlichen Wesen im Haus wirklich als meine Brüder ansah. Sie waren für mich eher Individuen die zufällig im gleichen Haus wie ich wohnten. Als ich Schritte auf der Treppe hörte, ahnte ich bereits, was mir blühen würde. Mein Vater wollte mich zum Kuchen essen holen. Aber ein trautes Familienessen war das letzte wonach mir der Sinn stand. Ich hatte jetzt weder Kraft noch Lust dazu mich den neugierigen Blicken und den drohenden Fragen auszuliefern, also schloss ich die Augen und stellte mich schlafend, als mein Vater ins Zimmer kam. Heute würden Sie mir meine Abwesenheit wohl nachsehen. "Mara?" Die Stimme meines Vaters klang so leise und unsicher, als habe er Angst mir nur mit dem Aussprechen meines Namens wehzutun. Nach einem kurzen Augenblick schloss er leise die Tür hinter sich und ging die Treppe wieder hinunter. "Sie ist eingeschlafen und ich wollte sie nicht wecken" erklärte er der versammelten Familie, die ja eigentlich meine Ankunft erwartete."Es war ja auch ein schwerer Tag für sie" antwortete Vicky. "Wie ist sie denn so?" Das musste Marks Stimme sein. "Ich habe sie auch erst kurz kennengelernt. Aber du musst daran denken, dass sie gerade ihre Mutter verloren hat." Die Analyse meines Verhaltens wäre an manch anderen Tagen vielleicht amüsant gewesen,  aber heute erfüllte sie mich nur mit unsagbarere Trauer. "Ich werde das schon nicht vergessen. Schließlich erwähnt ihr es nur jedes mal, wenn wir über sie reden."  
Sie redeten also über mich. Ich war ein exotisches Tier, das von allen Seiten beäugt wurde. Sie diskutierten während dem Essen über mich und registrierten jede meiner Bewegungen, um später darüber diskutieren zu können. Hätte ich mich nicht schon vollkommen fehl am Platz gefühlt, wäre es spätestens jetzt dazu gekommen. Zum Glück waren sie es ziemlich schnell leid über mich zu reden und wandten sich anderen uninteressanten Gesprächsthemen zu. 

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich fast nur in meinem Zimmer. Zweimal lief ich Vicky über den Weg. Mark und Paul sah ich überhaupt nicht und meinen Vater ignorierte ich, wenn er in mein Zimmer kam. Man gewährte mir eine Schonfrist. Wahrscheinlich weil ich gerade erst angekommen war, meine Mutter verloren hatte und ein volllkommen bedauernswertes Wesen war. Nicht dass ich mich selbst so gesehen hätte, aber ich war über die Ruhe ganz froh. Ich wollte meine "neue Familie" nicht besser kennenlernen und schon gar nicht mögen. Auch wenn meine Mutter mir immer wieder erzählt hatte, wie gut ich mit ihnen zurechtkommen würde und dass ich glüicklich werden würde, war mein Plan nie, hier wirklich anzukommen. Oft musste ich meiner Mutter auch versichern, dass ich ein schönes Leben ohne sie führen würde, aber gemeint hatte ich es nie so. Wie sollte ich auch glücklich ohne sie sein, wenn sie der Mittelpunkt meines Lebens gewesen war? Aber natürlich hatte ich ihr immer alles gesagt, was sie hören wollte. Schließlich war sie todkrank und mit todkranken Menschen sollte man nicht streiten. Das war so ein ungeschriebenes Gesetz.
Das erste was die Ärzte dir als Kind einbläuen ist immer, dass der Patient jetzt viel Ruhe braucht, dass er sich nicht aufregen darf, dass er jetzt viel Hilfe benötigt und dass man jetzt ein großes starkes Mädchen sein muss, dass für den Patienten sorgt. Ich war also die Große gewesen und hatte versucht nie mit meiner Mutter zu streiten. Ich hatte sie beruhigt und behauptet ich würde glücklich werden. Sie hatte es mir geglaubt. Aus dem einzigen Grund warum sie in diesen Tagen alles tat. Um nicht verrückt zu werden. 

Hinter all meinen MaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt