Kapitel 19 Cecilia

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Ich hörte ein langes Piepen in meinem Kopf und bekam so langsam wieder mit, was gerade geschah. Wir waren zum Mittelpunkt geworden und alle anderen, die im Gasthaus saßen schauten interessiert zu uns herüber. Dann wanderte mein Blick zu Hensk. Er lag regungslos auf dem Boden. An seiner Stirn lief Blut herunter und man hörte, wie er tief und schlecht atmete. Puh... Er lebt noch. Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen, um ihm gut zuzureden und zu sagen, dass ich da bin, doch ich konnte nicht. Ich wusste nicht, was meine Entführer machen würden. Einer von ihnen schaute durch das Gasthaus. Er blickte jedem einzelnen in die Augen und nach und nach drehten sich alle interessierten wieder ihren Tischen zu und taten, als hätten sie nichts mitbekommen. Scheinbar hatten sie alle großen Respekt vor dem Mann. Zugegeben hatte ich auch Angst, aber berechtigt. Ich war alleine gegen sieben. Die Besucher des Gasthauses jedoch waren dreißig gegen sieben oder besser zwei, denn die anderen hatte Hensk verprügelt. Was macht ihnen so Angst an diesen Leuten?, fragte ich mich. Nachdem sich alle umgedreht hatten, wendete sich der Anführer der Gruppe an mich: "Kennst du ihn? Wer ist diese Sejla?" Sejla? Wie kommt er denn an diesen Namen? "Ich kenne ihn nicht", log ich. "Wer ist dieser Mann?", wiederholte er. Auch ich wiederholte, was ich auch zuvor gesagt hatte: "Ich weiß es nicht!" Ich hatte es sehr energisch gesagt, vermutlich zu energisch. Der Mann wurde misstrauisch. Er wendete sich an einen seiner Gefolgsmänner und gab ihm ein Handzeichen. Der stand daraufhin wieder auf und ging zu Hensk. Dann zog er aus seinem Gewand einen Dolch. Er stellte sich breitbeinig über Hensk und beugte sich herunter. Übertrieben langsam bewegte er die Klinge auf Hensk' Herz zu. Ich darf mir nichts anmerken lassen! Der Mann hob die Hand in der das Messer war, um auszuholen. Im letzten Moment, bevor er auf ihn einstach, konnte ich mich nicht mehr halten. "NEIN! HALT! STOPP! Bitte hört auf!", schrie ich und stand ruckartig von der Bank auf. Das Lächeln auf dem Gesicht des Anführers war groß. "Na geht doch." Ich brach in Tränen aus. Es schien ihn jedoch weniger zu stören, als die Erkenntnis, dass ich gelogen hatte. "Wie kannst du es wagen? Deinen Anführer zu belügen?" "Ihr seid nicht mein Anführer", rief ich verzweifelt. Er trat einen Schritt auf mich zu. Auf einmal durchzuckte mich ein Schmerz. Meine linke Gesichtshälfte brannte. Er hatte mich geohrfeigt. "Was?", fragte ich. Er ignorierte mich. "Ich bin Sogeb, der Anführer der Wilden. Und dein Anführer und du wirst mich nicht belügen, Nea! Oder sollte ich sagen: Cecilia?" Woher wusste er das? "Ich bin nicht Cecilia! Wie kommt ihr darauf?" Wieder durchzuckte mich ein Schmerz. Eine weitere Ohrfeige hatte mich getroffen. Meine linke Gesichtshälfte fühlte sich taub an. "Was ist hier denn los?", wollte der Ober wissen. Er musste wohl wieder aus der Küche gekommen sein, um weitere Bestellungen aufzunehemen. Als er Sogeb und mich sah, weiteten sich seine Augen. Er ging auf uns zu. Seine Lippen bebten, doch er sagte nichts. Er staß Sogeb lediglich von mir weg. Dem Anführer schien das nicht zu gefallen: "Sie gehört bestraft!" Ungläubig blickte der Ober ihn an: "Was hat sie denn getan? Hat sie euch eine Nacht verweigert? Oder war sie zu freundlich zu euch?" "Seht doch selbst!" Mit hochrotem Kopf zeigte Sogeb auf Hensk und seine Leute. Der Ober sah drein, als hätte man ihm gerade erzählt, dass ein Hund sprechen könnte. Trotzdem spielte er mit. Er schaute mich durchdringend an. "Junge Dame, das ist unverzeihbar!" Er packte mich am Ohr und zog mich ein Stück mit sich. Dann wendete er sich den Wilden zu: "Haut ab. Haut ab und lasst euch nie wieder blicken." Sogeb ließ nicht locker. "Sie ist meine Gefangene! Ich werde sie bestrafen!" "Jetzt gehört sie mir und glaubt mir, dass sie hier ihren schlimmsten Albtaum erleben wird." Er tat, als würde er mich mit voller Wucht wegstoßen, gab mir jedoch nur einen kleinen Stubs und ich tat, als würde ich mit dem Kopf gegen einen Tisch schlagen und blieb dann liegen. Sogeb schnaubte: "Na gut." "So und jetzt nimm deine Männer und raus!", befahl der Ober. Ich hörte, wie er seine Männer wieder zu Bewusstsein brachte und mit ihnen und der Frau wortlos verschwand. Dann sagte der Ober: "Sie sind weg." Ich öffnete die Augen und stand wieder auf. Ich strich mir mein Kleid glatt. Es hatte stark gelitten, aber egal, es war nur ein Kleid. Jetzt konnte ich endlich zu Hensk. Ich rüttelte ihn solange, bis er hustete und nach Luft schnappte. Langsam öffnete er die Augen. Sie waren geweitet und hatten nicht diesen weichen Ausdruck, wie damals, als ich ihn kennegelernt hatte. Trotzdem war ich froh, dass er wohlauf war oder zumindest noch lebte. "Hallo Lia", sagte er schwach. "Hallo Hensk", lächelte ich glücklich. Ich half ihm aufzustehen und sich an einen Tisch zu setzen. "Ich hole ihm etwas Wasser", sagte ich zu dem Ober. Ich durchschritt den Raum und betrat die Küche. Ein mittelgroßer Raum, dessen Wände an einigen Stellen mit ein paar Fliesen verdeckt waren. Links von mir direkt neben der Tür war eine Ablage und daneben ein Ofen in dem ein Feuer brannte. An der Wand gegenüber war ein großes, ungeputztes Fenster, das geöffnet war. Es blies ein angenehmer Wind herein. An den Wänden rechts und links waren einige alte Schränke und ein paar Fässer standen auch im Raum. In der Mitte der Küche stand ein Tisch. Ich ging zu einem der Schränke und öffnete ihn. Nichts. Ich ging weiter. Im nächsten Schrank waren Teller und Bierkrüge. Ich hatte keine Lust andere Gläser zu suchen, also nahm ich einen Krug heraus. Dann ging ich zu einem Fass, es stand ein "W" darauf. Ich ließ die Flüssigkeit in den Krug tropfen, schloss das Fass jedoch schnell wieder, denn es kam nur Wein heraus. Ich trank das bisschen schnell aus und suchte weiter. Auf einem Fass, das in der Nähe der Tür stand, war das Wort "Wasser" geschrieben. Ich füllte also den Krug und ging zu Hensk zurück. Begierig trank er. Als er fertig war, fragte er:"Cecilia, was machst du hier? Und was machst du bei denen?" "Ich bin nach Hallernfeste gegangen und dort habe ich Pläne der Jemoys gefunden. Es wirkte auf mich, als hätten sie vor dieses Dorf nieder zu brennen. Ich wollte euch warnen, also bin ich zurück zum Wald. Dort haben mich diese Wilden gefunden und entführt und hierhin mitgenommen." Er hörte mir nickend zu. "Du meinst also, dass die Jemoys uns angreifen wollen?" "Ja", sagte ich mit trockener Kehle. "Wir müssen die anderen warnen, selbst, wenn das nicht stimmt. Sicher ist sicher." Dann kletterte ich auf den Tisch, an dem wir saßen. Ich räusperte mich laut: "Hört alle zu! Ich war bei den Jemoys. Ich habe gesehen, dass sie dieses Dorf zerstören wollen, weil wir zu den Sommerwiesen gehören." Ich griff in meinen Ärmel und zog die Karte heraus. "Seht! Das ist, was sie vorhaben!" Mittlerweile hatte ich die ganze Aufmerksamkeit. "Beschützt dieses Dorf und Sahena! Lasst es nicht dazu kommen!" Stille. Es schien, als hätte ich sie überzeugt. Hensk flüsterte ein leises "gut gemacht". Doch der Stolz hielt nur kurz. "Wieso sollen wir dir glauben?" "Das ist Cecilia von den Sommerwiesen! Schnappt sie und bringt sie zu König Leonard." "Was erlaubst du dir, Kleine?" Von überall kamen Stimmen. "RUHEEE!!!", griff der Ober ein, "vielleicht ist sie nur ein Kind, aber wir sollten zumindest in Erwägung ziehen, dass sie Recht hat." Jetzt hat er mich schon das zweite Mal an einem Tag gerettet. Und tatsächlich hatten sie die Menschen wieder beruhigt. Ich stieg von dem Tisch herunter.

Bei Hensk Zuhause belegte ich dasselbe Bett, auf dem ich bereits vor ein paar Tagen geschlafen hatte. Meine ganzen Reisen hatten mich seh mitgenommen, trotzdem war mir das Einschlafen gestern schwer gefallen, da ich ständig Angst hatte, dass mich doch irgendjemand an die Finspers ausliefert, wie Max es -als Stellvertreter Leonards- verlangt hatte. Glücklicherweise nicht. Jetzt saß ich also mit Hensk an einem Tisch. "Warum haben die Wilden mich auf Sejla angesprochen?" Hensk schien gepeinigt und lief knallrot an. "Ich habe gesagt, dass du sie finden sollst, falls ich das nicht überlebt hätte." Fragend blickte ich in an, doch er wich aus: "Wie geht es deinem Gesicht?" Dort, wo Sogeb mich geschlagen hatte, war es ein bisschen blau geworden. "Es geht schon wieder. Es ist nichts schlimmes." "Doch", erwiderte Hensk, "er hat dich grundlos geschlagen." Das stimmte, aber irgendwie auch nicht, denn schließlich hatte ich ihn belogen. Ich zuckte mit den Schultern und aß meiner Haferbrei weiter. Diese graue Pampe schmeckte einfach grässlich, aber immerhin hatte ich etwas zu essen. "Ich wusste garnicht, dass du im Gasthaus arbeitest!", wechselte ich das Thema. Er brummte und gab ein "Irgendwo muss man ja Geld verdienen", von sich. Als wir beide aufgegessen hatten sagte Hensk: "Cecilia ich bringe dir ein bisschen Wasser, dann kannst du dich frisch machen und dann suchen wir ein neues Kleid für dich." Ich wollte nicht baden. "Ich habe gehört, dass hier in der Nähe ein See sei. Dort würde ich hingehen." Er überlegte kurz. "Ja, das stimmt. Ich führe dich hin. Aber wir müssen dir auch noch..." "Ist schon gut. Ich trage erstmal dieses, es ist ja nur ein bisschen dreckig. Ich wasche es einfach mit." Das schien ihn zufrieden zu stellen.

Der See war wunderschön. Genauso märchenhaft wie in meinen Büchern. Er war groß und das Wasser war Saphirfarben und klar. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Um den See herum war eine große Wiese und Schilf wuchs an den Ufern. Vereinzelt waren auch Bäume zu finden, die schon Jahrzehnte alt sein mussten. Ich genoss den Anblick für einen Moment, dann wendete ich mich an Hensk: "Danke. Ich bin sprachlos. Er ist wunderschön." Er lächelte und ging. Als er aus meinem Sichtfeld war, löste ich die Schnüre von meinem Kleid und hängte es über einen Ast. Dann ging ich ans Ufer. Vorsichtig streckte ich meinen Zeh aus und fühlte die Temperatur. Es war angenehm kühl. Ich ging weiter, bis mir das Wasser zur Brust ging. Anschließend legte ich den Kopf in den Nacken und wusch meine Haare. Sie waren verknotet, aber nach ein bisschen ziehen und mit den Fingern kämmen war es in Ordnung. Auf einmal kitzelte etwas an meinem Fuß. Ich blickte nach unten. Es war ein Fisch. Seine Schuppen glitzerten. Ich lachte. Einfach, weil es hier so schön war. Hier war die Welt in Ordnung. Alles war so idyllisch, am liebsten hätte ich diesen Ort nie verlassen. Noch einige Zeit genoss ich die Stille, doch als ich gerade aus dem Wasser stieg und mein Korsett zugeschnürt hatte, hörte ich Kinder. Ich ging in die Richtung der Rufe. Zuerst klangen sie glücklich, doch je näher ich kam, desto hilfloser wurden sie. Im Laufschritt kam ich bei den Kindern an. Ein Mädchen stand schreiend und weinend am Ufer. Ihre Haare waren zerzaust und sie trug Hosen. Ihr Blick war starr auf das Wasser gerichtet. Ich folgte ihm. Dort in Wasser war ein Junge. Sein schwarzes Haar war nass und er rang nach Luft, jedes mal wenn er auftauchte. Scheinbar war er in den See gefallen, konnte aber nicht schwimmen. Genauso wie ich. "Alles wird gut", beruhigte ich das Mädchen. Wenigstens hörte sie auf zu schreien, doch leise weinte sie weiter. Mir bleib jetzt nichts anderes übrig. Ich sprang in den See. Er war tief an dieser Stelle, sodass ich nur auf Zehenspitzen stehen konnte. Hektisch suchte ich den Jungen, der nun immer weniger an der Oberfläche auftauchte. Als ich ihn gegriffen hatte hob ich ihn hoch und ging zum Ufer zurück. Ich legte ihn auf die Wiese und hiefte mich aus dem See. Schnell und geschickt knöpfte ich die Jacke des Jungen auf damit der besser Luft bekam. Ich versuchte ihn irgendwie zu beatmen. Das Mädchen schaute gebannt zu. "Hol Hilfe!", befahl ich ihr. Sie rannte sofort los. Hoffentlich ist es nicht zu spät. Ich fühlte seinen Puls.

Destroyed  [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt