#1 (Kim Jongin)

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Die Dumpfheit umschloss mich wie eine Decke. Ich spürte nichts, ich sah nichts, ich hörte nichts. Vor meinem inneren Auge sah ich nur das schwarze Nichts. So sieht bestimmt ein Nihilist die Welt. Innerlich lachte ich über meinen eigenen Witz. Ein Wunder, dass ich hier überhaupt Denken konnte. Und je länger ich in dieser Taubheit gefangen war, desto mehr gefiel es mir. Es machte mir keine Angst. Ich fühlte mich wohl. Ich konnte nur im Hier und Jetzt denken, sein, existieren. Was war vorher geschehen? Was würde geschehen? Alles Fragen, die mich nicht weiter beschäftigten. War ich tot? Ich wusste es nicht. Das, was ich wusste, war – Hier bin ich sicher. Hier kann ich bleiben.

Plötzlich durchfuhr mich ein ziehender Schmerz, als würde ein Messer durch meinen Kokon schneiden, als würde ich die Wasseroberfläche durchbrechen. Dumpf konnte ich Stimmen wahrnehmen. Wie in Trance. Das war nicht real, oder? Mein Nichts existierte noch, gleich würde ich wieder dorthin gelangen. Doch das tat ich nicht. Das wurde mir bewusst, als ich Seine Stimme hörte. Seine unverkennbare, dunkle, aber dennoch warme Stimme. „Shailene! Bitte sag mir, dass du noch da bist! Bitte wach auf". Ich glaubte, ihn schluchzen zu hören. Aber das konnte nicht sein. Der Jongin den ich kannte, würde niemals weinen.

Und als ich den Mund öffnete, unbewusst und dennoch gesteuert, hörte ich mich nur einen Satz sagen, den ich schon so oft in seiner Gegenwart  in letzter Zeit gesagt hatte.

„Ich heiße Shay."

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Als ich aufwachte, hatte ich ein Déjà-Vu. Das Neonlicht, das in meinen Augen schmerzte, der Geruch nach Desinfektionsmitteln, sogar die Geräusche der Fußstapfen auf dem glänzenden Linoleumboden. Ja, das kannte ich. Vor genau 5 Jahren war ich schon einmal hier gewesen. Ein dunkles Kapitel in meiner Lebensgeschichte. Ich atmete erschrocken ein, um zu spüren, dass ich es noch konnte. Und fing an zu Husten. „Hey, beruhige dich, beruhig dich". Jemand berührte sachte meine Schulter. Dieser Fleck brannte. Er brannte wie Feuer und ich wusste sofort, wer es war, der hier neben mir saß. „Hau ab! Warum lässt du mich nicht endlich in Ruhe!", schrie ich aus Verzweiflung. Mein Husten wurde schlimmer und ich bekam Panik. Dazu stießen noch ein paar verzweifelte Schluchzer. Tränen rannen mir über die Wange und mir wurde heiß. Ich würde ersticken, das wusste ich. Ich steckte all meine Energie darein, ihn aus meinem Zimmer zu scheuchen, nahm mein Kissen und warf es in die Richtung, in die ich glaubte, er würde dort sein. „Verstehst du nicht, dass du der Grund bist, warum ich hier liege?!". Ich griff das nächste Kissen und schleuderte es von mir weg. Als nächstes war die Decke dran, die zu schwer war, als dass sie wirklich weit fliegen konnte. Als nichts mehr in Reichweite war, legte ich mich erschöpft aufs Bett und versuchte zu atmen. Ein- und ausatmen. Beruhig dich. Das war mein Mantra, welches ich mir selbst aufsagte. Aber es half nichts. Der stechende Schmerz in meiner Lunge setzte ein und ich bekam keine Luft mehr. Alles, was ich von dem Moment noch weiß ist, dass ich ihn schreien hörte. Er war noch dort.

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Meine Mama sagte immer, dass Liebe die schlimmste Krankheit von allen ist. Es gibt kein Gegenmittel, du bist ihr unterlegen, du kannst nichts dagegen tun. Sie kann dir mehr weh tun, als jeder andere körperliche Schmerz, den man spüren kann. Und sie hatte Recht. Das begriff ich nun langsam.

Als ich erneut aufwachte, spürte ich etwas Nasses, das in regelmäßigen Abständen auf mich fiel. Regen?

Ich brauchte ein Wenig um zu realisieren, dass es Tränen waren. Er strich mir die Haare aus der Stirn und beugte sich gefährlich nah über meinen Kopf. „Es tut mir so leid, Shay. So Leid..." Seine Stimme wurde leiser und leiser, bis sie schließlich ganz versagte. „Ich wollte dir niemals so weh tun, ich bin ein Idiot." Ich erwiderte nichts. In meinem Hals war ein Kloß, der meinen Wörtern den Weg versperrte. Ich hörte nur zu, unfähig mich weiter zu wehren. Seine Berührungen taten weh. Mehr weh, als mein gesamter Körper. Aber ich ließ es zu. Ich konnte nichts dagegen tun. „Als ich dich das erste Mal sah, weißt du, also wirklich sah. Nicht wie man Menschen in Mengen sieht, unsichtbar, nicht als Individuum. Das war, als ich dich singen gehört habe. Du hättest dich sehen müssen." Er versuchte zu lachen, doch sein Schluchzen übertönte den Klang seiner Stimme. „Du warst du. Und ich war ich. Ich habe noch nie jemanden so singen gehört. Es war, als würdest du alle deine Emotionen filtern und sie in deinen Worten wiederspiegeln lassen. Es war... unglaublich." Er flüsterte und ich musste mich anstrengen, ihm zuhören zu können. Doch egal, was er jetzt sagte, es würde nichts wieder gut machen. „Du kannst das nicht vor anderen Menschen geheim halten. Du musst etwas daraus machen! Deswegen habe ich es aufgenommen. Und ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen." Ich schnaufte und versuchte mich, aus seinem Griff zu lösen. So ein pseudo-poetisches Geschwafel konnte ich mir echt nicht mehr geben. Mir wurde schlecht. Als wenn er irgendetwas davon ernst meinte. Als ob er das Ausmaß der Situation verstehen würde. Als wenn er wüsste, wie gedemütigt ich wurde, wie verletzt ich war. Das konnte er nicht. Er war nur Jongin, der Typ der alles hatte – Talent, das Aussehen, das Geld, die Möglichkeiten, das Ansehen. Ich war nichts im Vergleich zu ihm. Und man kann nicht einfach den Status wechseln. Ich war das hässliche Mauerblümchen von nebenan. Ich konnte nicht auf einmal etwas Anderes werden, das verstieß gegen die Regeln. Und es gab genug Menschen, die sich als Hüter dieser Regeln verstanden. Die mich danach fertiggemacht hatten, die der Grund waren, warum ich hier lag.

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