Ich ließ die verbliebene Nachmittagswärme auf meine gebräunte Haut strahlen und wärmte mich etwas daran. Es war Herbst und ich war dankbar über jeden Sonnenstrahl, der mir gewährt wurde.
Meine Augen fokussierten den Grabstein, zu dem ich auf dem Weg war. Der Friedhof war, wie immer um diese Zeit, so gut wie leer. Deswegen ging ich auch nur frühnachmittags hierhin, ich ließ meine Lesungen ausfallen und auch den Freiwilligendienst, denn ich mochte es nicht, wenn mir jemand beim Trauern zusah.
Nur hier, am Grab meines kleinen Bruders, zeigte ich meine Trauer, weil ich wusste, dass er mich verstand. Ich wusste nicht, wo er war, aber er wachte über mich und meine beiden Eltern, dessen war ich mir sicher. Auch heute wieder spürte ich die Präsenz meines Bruders und lächelte leicht bei dem Gedanken daran. Jedoch verschwand dieses Lächeln, als ich zum Grab kam.
Dort lagen neue Blumen. Doch es waren keine Nelken, die meine Mutter und mein Vater regelmäßig dort drapierten, es waren auch nicht die Lilien, die ich wie jeden Donnerstag in der Hand hatte und gleich dort ablegen wollte, irgendjemand hatte direkt auf das Grab deinen Kranz aus Vergissmeinnicht und Chrysanthemen gelegt. Auf dem Kranz standen die Worte:
Ruhe in Frieden Jonathan, dein Opfer hätte nicht sein sollen.
Ich bete darum, dass du Ruhe gefunden hast und vergeben konntest.
In stiller Trauer und AndenkenMagnus
Ich war geschockt. Irgendjemand außerhalb meiner Familie hatte Jonathan Blumen gebracht! Aber ich war weniger am Überlegen, wer dieser Jemand war, als dass ich mich fragte, warum erst jetzt?
Mein kleiner Bruder war vor über einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte in einem Taxi gesessen und der Fahrer hatte mehr auf die Musik aus dem Radio als auf den Verkehr geachtet. Dieser Fehler hatte sie beide das Leben gekostet. Jonathan hatte es noch ins Krankenhaus geschafft, war dann jedoch an inneren Blutungen gestorben. Ich wusste immer noch, wie ich seine Hand gehalten hatte, wie er zu mir sagte, alles werde gut, wie er danach die Augen schloss und sie nicht wieder öffnete.
Ich hing diesem Gedanken noch einem Moment schaudernd nach, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. War das vielleicht der geheimnisvolle Magnus, der sich nicht traute, bei Jonathans Grab zu bleiben?
Ich schaute nach links und sah einen Mann, geschätzt Mitte 30, mit schwarzer Jacke und großem Hut, der mir genau in die Augen schaute. Ich konnte meinen Blick nicht mehr abwenden, der Mann hielt ihn mit seinem eigenen gefangen. Nach einer Ewigkeit, die er mich angestarrt hatte, drehte er sich abrupt um und verschwand zwischen den Grabreihen. Ich blieb perplex zurück und musste erstmal zu Atem kommen. Ich hatte nicht einmal geatmet, während ich ihm in seine dunkelgrünen Augen geschaut hatte.
Viele Fragen brannten mir auf der Zunge, doch ich hatte niemanden, dem ich sie hätte stellen können. Wer war dieser Mann? Was konnte er mit Jos Tod zu tun haben? Wieso war er weggegangen und hatte mir nichts erklärt?
Ich beschloss, diesen Fragen später auf den Grund zu gehen, denn nichts sollte mich davon abhalten, meinen Bruder zu besuchen.
Vor seinem Grab ging ich auf die Knie und fing wie jeden Donnerstag an, mit ihm zu reden.
„Hey Jo, wie geht es dir? Ich weiß leider immer noch nicht, wo du bist, aber ich hoffe, es geht dir gut. Mom und Dad geht es inzwischen etwas besser. Sie sind nur noch selten so traurig, dass sie nicht zur Arbeit gehen und zuhause bleiben. Aber man merkt trotzdem im ganzen Haus, dass jemand fehlt, es fühlt sich traurig an. Jeden Samstag veranstalten Mom und Dad einen Kaffeekreis für Eltern, die ihre Kinder verloren haben und jeden Sonntag gehen sie in die Kirche, dass haben sie früher nur so selten getan. Mir geht es auch ganz gut, die Uni gefällt mir, auch wenn einige andere Studenten meinen, ich sei mit 17 noch viel zu jung, was wahrscheinlich auch stimmt, aber es bringt Spaß. Meine Freunde tun mir gut, auch wenn es nur wenige sind, denn ich habe seit deinem Tod noch mehr Schwierigkeiten, mich mit Fremden zu unterhalten. Aber es geht eigentlich. In ein paar Jahrzehnten sehen wir uns dann ja auch wieder, dann musst du mir unbedingt erzählen, was du alles so erlebt hast, mein Leben bekommst du ja die ganze Zeit mit. Ich wünschte, ich könnte länger bei dir bleiben, aber ich muss noch eine Hausarbeit schreiben. Ich hab dich lieb, Jo."
Mit diesen Worten legte ich meine mitgebrachten Lilien neben dem Kranz auf das gepflegte Grab und sah noch ein letztes Mal für diese Woche auf meinen kleinen Bruder hinunter.
Bevor ich vom Friedhof verschwand, sah ich mich noch einmal um. Ich fand es schön, dass Jo hier beerdigt worden war, denn es schien so, als würden hier immer leise im Hintergrund die Vögel zwitschern und selbst bei strömenden Regen überkam einen eine sonnige Wärme an diesem Ort. Die gepflasterten Wege waren immer sauber, die Gräber waren gepflegt und auf allen lagen immer frische Blumen, die alten wurden anscheinend vom Friedhofspersonal bei einigen alleinstehenden Gräbern ausgetauscht, außerdem war das Gras dieser parkähnlichen Anlage immer grün und roch nach Zufriedenheit.
Auf dem Weg zurück zu meinen Freunden überlegte ich noch, ob dieser Magnus nicht doch etwas mit dem Tod an meinem Bruder zu tun gehabt haben könnte, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Immerhin war der Taxifahrer in einen Graben gerauscht, von der Autobahnbrücke aus. Daran hatte niemand anders als der Taxifahrer Schuld.
Mit diesen letzten Gedanken ging ich zurück zu meinen Freunden, die wie jeden Donnerstag am Auto auf mich gewartet hatten.
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Vergiss mein Nicht
Chick-LitJemand hatte direkt auf das Grab einen Kranz aus Vergissmeinnicht und Chrysanthemen gelegt. Wer ist der geheimnisvolle Blumenüberbringer? Wer ist für den Tod verantwortlich? Wer wird Sum dabei helfen, die Wahrheit herauszufinden?