Kapitel 6

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Behutsam lege ich meine Hand auf Andreas' Schulter. "Ja, das wäre er", stimme ich ihm zu. "Glaubst du noch daran? Dass er zurück kommt, meine Ich?" Seine Frage bringt mich wirklich zum Nachdenken. Glaube ich daran? Ich weiß es nicht. "Ich hoffe es", antworte ich nur. Ich spüre wie sich eine Träne den Weg über mein Gesicht gesucht hat. Eilig wische ich sie weg und stehe auf. "Kommst du mit nach unten? Heidi müsste gleich da sein?", frage Ich, um von diesem ernüchternden Gedanken weg zu kommen. Andreas fährt sich ebenfalls einmal mit der Hand über das Gesicht. Dann steht er entschlossen auf. Doch anstatt nach unten zu gehen, zieht er mich in eine Umarmung. "Egal wie das alles ausgeht, wir werden dich niemals alleine lassen. Wir schaffen das... zusammen", sagt er, dicht an meinem Ohr. Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht. "Ich weiß gar nicht wie ich euch, für das alles, danken soll." Andreas löst sich von mir und schaut mich eindringlich an. "Das musst du nicht. Wir sind eine Familie. Und wir wachsen immer weiter", sagt er und deutet dabei auf meinen kleinen runden Bauch. "Es wird eine kleine Luisa.", teile ich ihm mit, als mir einfällt, dass ich noch gar nichts davon erwähnt habe. Breit grinsend gehen wir nach unten, von wo schon lautes Klappern von Geschirr zu hören ist.

- Chris Sicht-
Ich halte angespannt den Atem an. Der Schatten des Baumes gibt mir ein klein wenig Sicherheit. Die Schritte kommen immer näher. Ich rechne schon fest damit, dass mich gleich jemand finden wird, der mich absolut nicht finden sollte. Zaghaft schaue ich an meinem schützenden Baum vorbei nach links. Erleichtert stelle ich fest, dass dort eine ältere Dame mit ihrem Hund spazieren geht. Ich atme hörbar aus, stehe auf und renne los wie der Teufel. Die Frau ist schon auf den nächsten Waldweg abgebogen. Sie wäre mir jetzt wahrscheinlich sowieso keine große Hilfe. Zielorientiert renne ich auf die nächste Kreuzung zu, immer in etwas Abstand zur Straße hinter den Bäumen. Was ist das nur für eine verlorene Gegend, in der nicht mal ein Auto vorbei kommt? Schnell renne ich über die Straße und sehe rasch das erste Haus. Das muss dieser Max gemeint haben. Ich vergewissere mich am Schild der Klingel. Hier bin ich richtig. Trotzdem zögere ich. Was, wenn es doch wieder eine Falle ist? Egal, schlimmer kann es nicht werden. Ich drücke länger als nötig auf den Knopf und höre das Läuten aus dem Inneren des Hauses. Eine junge Frau, vielleicht um die 30, mit langen braunen Haare öffnet mir die Tür. "Ähm.. Hallo. Ich bin Chris. Ihr Mann Max schickt mich her. Er meinte sie würden mir helfen." , stottere ich aufgeregt. Reiß dich zusammen, Chris! Die Frau nickt, nimmt ihren Autoschlüssel von der Kommode neben der Tür und kommt heraus. "Kommen Sie, wir müssen schnell zur Polizei. Wahrscheinlich haben sie schon gemerkt, dass sie nicht mehr dort sind", meint sie und bedeutet mir ihr zu folgen.
In einem Affenzahn rasen wir über die Landstraßen. Endlich kann ich ein Ortsschild sehen. Bielefeld steht darauf. Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, aber absolut nicht mit Bielefeld. Als wir das Gebäude betreten, wird die Frau schon von vielen Polizisten freundlich begrüßt. Scheinbar wird sie hier gern gesehen.
Ich erzähle dem Polizisten, der vor mir am Schreibtisch sitzt jedes Detail. Er weiß allerdings schon ziemlich viel über den Fall, was mich sehr verwundert. Wahrscheinlich habe ich das Andreas zu verdanken. Wie ich ihn kenne, hat er alles mögliche in Bewegung gesetzt. Was würde ich nur ohne ihn machen? "Den Rest können sie mit der Herforder Polizei klären. Wir werden sofort ihrer Beschreibung nach gehen und das Haus ausfindig machen.", teilt mir der nette Polizist nach einem langen Gespräch mit. Freundlich ergreife ich seine Hand. "Alles gute für sie, Herr Reinelt", wünscht er mir noch. Ich erwidere es höflich und gehe zurück zum Empfang. "Könnte ich mal kurz ihr Telefon benutzen?", frage ich Sandra, meine Retterin in der Not. Lächelnd holt sie es aus der Hosentasche. Schnell wähle ich die Nummer von Andreas' Haustelefon.

-Karos Sicht-
Wir sitzen gerade gemütlich am Esstisch, als das Telefon klingelt. "Ich gehe schon", ruft Andreas und steht auf. Wir unterhalten uns noch angeregt weiter über den Schultag der Kinder. Von Andreas kommt jedoch kein Laut. Er steht wie angewurzelt da, mit dem Hörer in der Hand, den Mund bekommt er auch nicht mehr zu. Skeptisch mustere ich ihn, bevor ich schließlich aufstehe. "Was ist denn los?", frage ich ihn besorgt. Als Antwort bekomme ich nur den Hörer des Telefons in die Hand gedrückt. Ein Stirnrunzeln kann ich mir nicht verkneifen. Dennoch nehme ich ihm den Telefonhörer ab und führe ihn zaghaft zu meinem Ohr, so als würde gleich jemand da raus springen. "Hallo?", frage ich hinein. "Hallo mein Schatz", kommt es augenblicklich von der anderen Seite der Leitung. Mir fallen tausend Steine vom Herzen, als ich realisiere wer da mit mir sprach. Mich überkommt ein leichtes Schwindelgefühl. Ich stolpere zwei Schritte nach hinten, bis ich die Kommode an meinem Hinterteil spüre. Dankbar lehne ich mich gegen sie.  "Geht es dir gut, Chris? Wo bist du?" Sofort werden alle hellhörig und schauen mich erwartungsvoll an. "Ich bin bei der Polizei in Bielefeld", erklärt er mir mit brüchiger Stimme. "Bei der Polizei in Bielefeld", wiederhole ich seine Antwort in Andreas Richtung. Er nickt. "Ich fahre sofort los.", teilt er dann mit, inzwischen aus der Schockstarre erwacht. Viel zu schnell muss ich mich von Chris verabschieden. Ich drücke auf den roten Knopf des Telefons und stecke es wieder in die Ladestation. Vor meinen Augen dreht sich alles. In der Hoffnung diesen Schwindel zu vertreiben reibe ich mir die Stirn und stütze mich wieder an der Kommode ab. Andreas nimmt das gleich zum Anlass wieder zu mir zu kommen. Er hatte sich schon Schuhe und Jacke angezogen. "Alles okay?", fragt er besorgt und hält mich fest. Ich wringe mir ein Nicken ab. Mittlerweile spüre Ich förmlich wie mir sämtliche Farbe aus meinem Gesicht weicht. "Ich muss mich nur kurz hinlegen. Fahr ruhig los und hole deinen Bruder." Langsam gehe ich zum Sofa hinüber. Andreas will es sich nicht nehmen lassen mich dort hin zu bringen. "Nun geh schon meinen Jungen holen. Wir sind doch alle hier", meint Heidi liebevoll und scheucht Andreas wortwörtlich aus dem Raum. Breit grinsend macht er sich auf den Weg nach Bielefeld.

Illusionen der Hoffnung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt