Kurz bevor er durch den Eingang des Hospitals trat, atmete er noch einmal tief durch. Natürlich hatte er schon viele Fantreffen gehabt und jedes einzelne genossen, aber das hier war völlig neu für ihn. Er fragte sich, wie er reagieren, was er wohl sagen sollte. Er fühlte sich wahnsinnig unbehaglich und vergrub die eine Hand tief in der Hosentasche, während die andere den Blumenstrauß umklammert hielt.
Samu Haber durchquerte langsam die Eingangshalle und marschierte zur Besucherinformation. „Hallo. Ich suche Anna Mikrom." Die junge Frau lächelte. „Ach, unsere kleine Anna? Die ist in Zimmer 12. Sie müssen nicht klopfen." Samu nickte und ging suchend die Flure auf und ab. Bei der Tür mit der Nummer 12 zögerte er. Sollte er wirklich nicht klopfen? Nein, das gehörte sich nicht, entschied er und hob die Hand. Als es keine Reaktion gab, klopfte er erneut. Er fragte sich, ob das Mädchen, das ihn da erwartete, wohl nicht sprechen konnte oder gerade einen Anfall hatte oder etwas ähnliches. Nervös fuhr er sich durch die Haare und betrat den Raum. Es war niemand da.
Das Krankenzimmer sah überhaupt nicht aus wie ein solches, sondern hell und freundlich, gelb gestrichen. Unzählige Fotos hingen an den Wänden. Die meisten zeigten eine glücklich strahlende Familie, andere aber auch Sonnenuntergänge oder Seen. Immer wieder tauchten Kirschbäume unter den Fotos auf. Samu entdeckte auch zwei Poster von Sunrise Avenue, seiner Band, und musste unwillkürlich lächeln. Aber das Mädchen, das er eigentlich suchte, war nicht zu finden. Einen kurzen und irrwitzigen Moment fragte er sich, ob das Mädchen wohl verstorben war, als er sich auf dem Weg hierher befunden hatte. Es erschreckte ihn, dass ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil von ihm sich genau das wünschte. Er hatte so große Angst, etwas falsch zu machen. Wie sollte er bloß mit ihr umgehen?
„Suchen Sie Anna?", fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Samu fuhr herum. Eine ältere Frau stand hinter ihm, einen Servierwagen, auf dem sich Bücher stapelten, neben sich. Er lächelte vorsichtig. „Ja, genau. Anna Mikrom." Die Frau lachte. „Die werden Sie hier nicht finden. Anna ist bestimmt im Garten. Suchen Sie dort." Samu Haber hätte alles erwartet; dass das Mädchen in der OP war oder gerade Ärztevisite war oder dass sie ihn doch nicht sehen wollte. Aber ein todkrankes Mädchen ganz allein im Garten? Nein, bestimmt nicht. Dennoch machte er sich auf den Weg dorthin.
Als er hinaus in die Sonne trat, blinzelte er einen Moment in die warme Aprilsonne und hoffte, dass er nicht allzu viel falschmachen würde. Dann erblickte er ein rothaariges, kleines Mädchen, das im Schatten eines Kirschbaums seilsprang. Er ging zu ihm hin und räusperte sich. „Entschuldigung?" Die Kleine drehte sich um und grinste ihn aus blauen, von Sommersprossen eingerahmten Augen fröhlich an. „Ja?" „Ähm... ich suche Anna Mikrom." Das Grinsen wurde noch breiter. „Steht vor dir."
Samu wäre die Kinnlade beinahe senkrecht nach unten geklappt. Dieses Mädchen, dieses fröhliche, lebenslustige Mädchen sollte die Todkranke sein, zu der er zu einem Fantreffen gekommen war? Sie sah ihn immer noch lächelnd, abwartend an. Ihr rotes Haar war kurz und stand in alle Richtungen von ihrem Kopf ab. Irgendwie erinnerte es Samu an Flammen, die um ihr hübsches Gesicht züngelten.
Er stand steif und unbehaglich da, wusste nicht, was er sagen sollte. „Ach so... hallo!" Sie lachte nur. „Hallo, Samu Haber! Komm, wir setzen uns!" Und schon nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich zum Stamm des Kirschbaums. Als beide im Gras saßen, versuchte Samu, seine wenig überschwängliche Begrüßung von eben wieder gutzumachen: „Es ist wirklich schön, dich kennenzulernen, Anna. Wie alt bist du denn?" „Ich bin elf." „So, elf schon?" Samu gab sich wirklich Mühe, ein gutes Gespräch zu führen, aber ihm fielen einfach nicht die richtigen Antworten ein.
„Ja, elf. Ich weiß, ich bin ziemlich klein für mein Alter!", grinste sie. „Ich mag, wie du sprichst!" Samu hatte extra für dieses Treffen noch einmal ganz besonders gut Deutsch gelernt. Er lächelte leicht. „Du hast sehr schöne Haare!" Anna strahlte. „Danke! Ich hatte sie mal lang, aber nach der Chemotherapie sind sie alle ausgefallen." Der Sänger kannte keinen anderen Menschen, der das mit einer solchen Fröhlichkeit hätte sagen können, wie dieses Mädchen es gerade getan hatte.
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Ein Jahr voller Kirschblühten (Samu Haber FF)
FanficEine Kurzgeschichte über Samu Haber und eine kleine Kirschblühte, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellt.