1. Geschichte

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Elaine stand auf der Kuppe der Brücke. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Brust hob und senkte sich ruckartig um mehr und mehr Sauerstoff in ihren zierlichen Körper zu pumpen. Sie kletterte auf das Brückengerüst, einen Fuß nach dem anderen hob sie auf die einen Meter hohe Steinwand, die sie von dem Wasser abgrenzte. Sie spürte die nackte glatte Steinoberfläche, die noch kühl von der vorherigen sternenklaren Nacht war und das Moos, welches weich und feucht ihre Fußsohlen kitzelte. Sie hob ihren Kopf gen Himmel und schloss ihre Augen, die dem unter ihr schimmernden Wasser glichen, grün und dunkel, durchzogen von hell schimmernden Streifen, dort wo die Wellen brachen und die aufgehende Sonne sich spiegelte. 

Langsam beruhigte sie sich, ihr Herz hörte auf zu rasen, die Dauer zwischen Atemzug und Atemzug wurde langsamer. Elaine hob ihre schneeweißen Arme, glatt wie Porzellan und unberührt wie tauüberzogene Schneeglöckchen, damit sie sich nicht anhalten konnte, wenn sie sich während des Falles umentscheiden sollte. Ja, sie hatte ihren Entschluss gefasst. Alle Unruhe war nun wie ein Schleier von ihr gefallen. Sie fühlte den leichten Wind, der ihren Körper umfloss, ihr über die Beine streichelte, ihr weißes Kleid hob und senkte, ihr wie eine unsichtbare Hand sanft durch die Haare strich und diese zum tanzen brachte.  Sie hörte die Vögel, die sie jeden Morgen, Mittag und Abend ihr ganzes Leben lang begleitet hatten und sie nun zum letzten Mal hören sollte. Ein schöneres Totenlied könnte ich mir nicht wünschen, dachte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und auch wenn es einen Hauch von Trauer verbarg, wusste sie, man würde sich an sie erinnern. Denn auch wenn sie die Menschen langsam vergessen werden, die Vögel werden es nie.

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