Prolog

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Ein eisiger Wind umwehte die Dächer New York Citys, ungewöhnlich für einen Morgen im Frühsommer.
Menschen durchquerten die hohen Straßenschluchten, eilig darauf bedacht der Kälte zu entfliehen, auch wenn das bedeutete früher einen ungeliebten Arbeitsplatz zu erreichen. Einige wenige waren vernünftig genug gewesen ihre Wintermäntel aus den Kellergeschossen hervor zu holen, die meisten vertrauten jedoch dem Wetterbericht, der schwüles Klima und Temperaturen in Rekordhöhe versprach. Kein Wölkchen würde den Tag trüben, kein Luftzug für Linderung sorgen. Jogger in Shorts säumten die Straßen, ihren Lauf unterbrechend um die vor Autos überquellenden Highways zu überqueren. Mütter setzten ihre streitenden Kinder vor Schulgebäuden aus Backstein ab, Geschäftsleute mit Headsets, die hupend jede Lücke zwischen den stehenden Firmenwagen zu nutzen versuchten. Dazwischen die Touristen auf den Rücksitzen der Taxis, stets kurz davor auf eigenen Füßen den Stau zu umgehen bevor sich die unendliche Schlange unter lautem Ätzen ein weiteres Stückchen vorwärts wälzte.
Über der ganzen Stadt lag ein Teppich aus Lärm, gewebt aus Streit, Motoren und Werkzeugen die in den frühen Stunden besonders engagiert zur Zerstörung des Alten und Erschaffung des Neuen eingesetzt zu werden schienen. Wer genauer hinhörte konnte auch Wecker im all Morgendlichen Konzert vernehmen, die flatternden Rotoren zweier Hubschrauber über der Stadt, geflüsterte Gebete in mehr Sprachen als in einem einzigen Leben erlernt werden könnten und Sirenen im Südöstlichen Teil der Stadt.

Als die erste Flocke fiel starrten die Menschen nur verblüfft in den Himmel. Einige ärgerlich ob der unzuverlässigen Vorhersage, einige verwirrt, einige begeistert. Wenige folgten dem Weg der Flocke mit Sorge im Blick, Befürchtungen im Herzen. Diejenigen die kein Obdach besaßen und jene deren Job nur im Sommer verfügbar war. Die seltsamste Reaktion jedoch war die derer, die die langsam in Richtung Boden gleitende Flocke als Triumph betrachteten. Die in der Verheißung auf Winter ein Versprechen auf Erfolg sahen. Auf Anerkennung, Genugtuung und Macht.

Und einer, ein einzelner Mann erkannte noch mehr darin. Mehr als er zu Erwarten gewagt hatte.
„Freiheit". Das Wort schmeichelte seiner Zunge als die tiefen Laute seine Kehle verließen. Genüßlich gestattete er sich das Wort ein weiteres Mal zu kosten. Tiefer, lauter, sicherer. „Freiheit.". Selten hatte etwas mehr versprochen als diese Flocke.
Diese erste Flocke. Eine Flocke der weitere folgten, nach und nach, immer schneller. Jede einzigartig und doch kaum unterscheidbar von Tausenden und Abertausenden ihrer Art die gemeinsam den Lärm der Stadt unter sich begruben. Stück für Stück, Flocke für Flocke. Je weniger Lärm an die Oberfläche drang, desto mehr rumorte es darunter.
Schnee im Sommer. Das konnte nur eines bedeuten.
„Freiheit." Ein Wärter sah sich Stirnrunzelnd nach ihm um.
„Freiheit." Bald würde ihn niemand mehr so ansehen, bald würden sie auf Knien um Gnade flehen, all jene die ihn hier her gebracht hatten.
„Freiheit." Sie würden bezahlen, einer nach dem Anderen, nach Höhe der Schuld geordnet. Immer Höher würde er sich vorarbeiten bis an die Spitze. Bis zu dem einen der den entscheidenden Schlag geführt hatte.
Matthew Michael Murdock.

„FREIHEIT!" Seine fleischigen Hände packten den Wärter, schneller als dieser reagieren konnte. Seine Finger umschlossen dessen blasse Kehle, drückten sanft, fast zärtlich in das weiche Fleisch, dann nachdrücklicher bis das bläuliche Gesicht vor ihm kaum noch Regungen zeigte.
Einen kurzen Moment der Hoffnung gestattete er dem sterbenden Körper, dann brach mit einem einzigen, wohltuenden Ruck das schmächtige Genick und der leblose Körper kam mit einem dumpfen Klatschen auf dem Boden auf.
Wilson Fisk wischte sich den Schweiß von seinem glatten Schädel, ein Grinsen umspielte seine Lippen.

Schnee im Sommer. Das konnte nur eines bedeuten.

Daredevil - Schnee im SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt