Ich beobachte sie schon eine ganze Weile.
Wie sie zusammengesunken auf dem kalten Boden sitzt und nichts tut, außer zu atmen. Ihre Augen sind starr auf das gerichtet, was sich vor ihr aus dem festen Boden erhebt und so mit Blumen beschmückt ist, als wäre es beglückwünscht worden, als wäre es gefeiert worden.
Und so ist es nicht doch auch!?
Es muss ein Haufen Zeug vorbereitet und geplant werden – wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es kommen viele Leute - wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es werden nette Worte über einen gesagt – wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es wird Musik gespielt - wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es gibt Essen – wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es gibt Geschenke und Blumen – wie auf einer Geburtstagsfeier.
Es gibt viele Emotionen – wie auf einer Geburtstagsfeier...
Okay, ich gebe zu, auf einer Geburtstagsfeier werden nicht einmal annähernd so viele Taschentücher gebraucht und es ist auch nicht so unheimlich still, aber im Grunde unterscheiden sich diese beiden Ereignisse nicht wesentlich voneinander.
Ich seufze. Was mache ich mir eigentlich vor? Ich weiß, dass man eine Beerdigung nicht mit einer Geburtstagsfeier vergleichen kann – aber ich wünschte es wäre so. Niemand würde leiden und keine Gedanken würden sich wochenlang, wenn nicht sogar monatelang, um einen drehen. Wäre das nicht fantastisch? Niemand würde sich Schuldgefühle geben und niemand würde auch nur eine Träne vergießen. Es wäre, als wäre alles wie vorher. Ohne Trauer, Einsamkeit, Schuldgefühle, Leere...ohne diesen Gedanken an das letzte Gespräch, die letzte Geste, die letzte gemeinsame Erinnerung.
Sie schluchzt auf. Plötzlich sitzt sie zu meinen Füßen.
Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich habe sie selten so gesehen, so...klein und kraftlos. Sie zittert. Es muss ziemlich kalt sein. Ihr dunkler Mantel ist geöffnet und zum Teil um ihre Beine geschlungen. Die blonden längeren Haare, lugen unter dem Saum aus Kunstpelz hervor.
„Hey", sage ich und lasse mich langsam neben sie sinken. Ein Ruck geht durch ihren ganzen Körper. Für den Bruchteil einer Sekunde ist sie wie erstarrt, bevor sie ihren Kopf zur Seite neigt und in meiner Richtung schaut. Ihre Haut ist so blass. Ich weiß, dass sie nie wirklich braun war oder in der Sonne braun geworden ist, aber so blass, nein weiß, war ihre Haut noch nie. Auch nicht, als sie im Krankenhaus mit einer Virusinfektion lag und ich sie besucht habe, um ihr die Langeweile zu nehmen.
„Hey", erwidert sie paralysiert und wischt sich mit zur Faust geballten Hand die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Augen sind ganz rot und geschwollen vom Weinen. Es muss Jahre her sein, dass ich sie Weinen gesehen habe. „Was machst du hier?", fragt sie mit krächzender Stimme.
Diese Frage überrascht mich. Warum sollte ich denn nicht hier sein? Ich sehe nach vorne, betrachte den Stein und die Inschrift, sogar auf die Blumen und Kränze werfe ich einen kurzen Blick. Doch außer den roten und weißen Rosen kann ich keine der anderen bunten Blumen, die kunstvoll zusammengesteckt worden sind, benennen. Zwischen ihnen flackern vereinzelt Lichter auf und ich senke den Blick.
„Wahrscheinlich das Gleiche wie du.", flüstere ich. Doch sie verzieht nur das Gesicht. Ihre Stirn ist von Unverständnis gefurcht.
„Ach ja? Um wen trauerst du denn?", fragt sie verächtlich. Eine Welle der Trauer durchflutet mich. Sie kriecht bis in meine Fingerspitzen und auf einmal habe ich wieder das Gefühl, dass selbst nach...jetzt alles meine Schuld ist.
„Willst du jetzt wirklich darüber diskutieren?", frage ich verletzt und werfe ihr einen kurzen Seitenblick zu. Als ich bemerke, dass sie mich die ganze Zeit angesehen hat, fühle ich mich noch unwohler.
Ich höre sie laut Seufzen. „Nein, will ich nicht. Das hier ist ohnehin nicht real." Ein Schauer erfasst mich. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen wie sie sich fühlt, aber ich weiß, dass sie einer der Menschen ist, die sich die meisten Gedanken um alles machen. Ich hoffe, dass sie jemanden findet mit dem sie über das hier sprechen kann, damit es für sie einfacher wird.
„Es sieht wunderschön aus.", murmle ich nach einigen Minuten des Schweigens, die nur die Raben mit ihren Schreien durchbrochen haben. Die Farben der Blumen, die das triste grau des Wetters so kontrastreich durchbrechen, haben mich wirklich für eine Weile in ihren Bann gezogen. Es ist fast zu schade, dass sie in einigen Tagen verwelkt sein werden. Aber so ist wohl der Lauf der Dinge...
„Nichts war schöner, als sie.", sagt sie, „Nichts war schöner, als du.", fügt sie flüsternd hinzu.
Ich seufze hörbar. Tränen bilden sich in meinen Augen. Es ist bedrückend, dass ich überall nur diese Trauer zu spüren bekomme. Es ist so niederschmetternd, dass alle nur weinen oder stumm vor sich sitzen. Wieso kann man sich nicht einfach nur Unterhalten, einen gemütlichen Abend verbringen und sich gegenseitig helfen, diese Trauer zu überwinden?
„Ich weiß, dass du das nicht hören möchtest, aber wenn dir das ein paar Menschen sagen, solltest du dem langsam etwas Glauben schenken."
„Er war hier. Bis zur letzten Minute. Ich glaube, dass er dich wirklich geliebt hat, auch wenn er Mist gebaut hat.", sie hat diesen Satz schon einmal zu mir gesagt und ein kleiner Teil von mir hat das wirklich geglaubt – das er mich liebt, dass er das wirklich getan hat, aber der größere Teil hat all die schönen Sachen, die er gesagt hat in der Luft zerplatzen sehen. Dieser Teil hat sich furchtbar verlassen gefühlt und sich so lange die Schuld dafür gegeben, dass alles so gekommen ist wie es kam.
„Und ich glaube, dass es wie immer war."
Als sie sich zu ihrer Freundin umdrehen wollte, war der Platz an dem der Schatten eben gesessen hatte, verweist. Es gab noch so viele Dinge, die sie ihr gern gesagt hätte, aber die Zeit und das Schicksal waren wohl nicht auf ihrer Seite. Sicherlich, sie würden für immer eine ganz besondere Verbindung zueinander haben und es würde Monate dauern, bis die Leere in ihr verschwunden war und den Verlust überstanden hatte, den ihr Tod hinterlassen hatte, aber es würde eine Zeit kommen, in der sie nicht mehr in Tränen ausbrach, wenn sie an sie dachte. Und sie freute sich schon darauf, denn es würde ihr besser gehen und sie könnte endlich die gemeinsamen Erinnerungen genießen, die sie hinterlassen hatte.
Ihr Blick fiel nochmals auf das reich geschmückte Grab vor ihr. Als die Glocken zu läuten begannen, war es in der Kirche mucksmäuschenstill geworden, obwohl jeder einzelne Platz besetzt war und einige sogar im Türbereich standen. So viele Menschen waren gekommen, die sie nicht kannte, aber von denen sie sicherlich schon einmal gehört hatte. Und alle waren hier, um ihrer besten Freundin die letzte Ehre zu erweisen.
Aber nun war sie fort.
„Du bist Isa, die Sandkastenfreundin von...", es war das zweite Mal, dass die endlose Stille von einer Stimme durchbrochen wurde. Als sie nach oben blickte, erkannte sie einen Mann, der seine Hände tief in den Taschen seiner eignen Jacke vergraben hatte. Einzelne dunkelbraune Haare blitzten unter der dunkelroten Mütze hervor.
„Und du bist Jasper, der Ex?" Wie auch sie es getan hatte, nickte er zur Antwort. Etwas ungelenk rappelte sie sich vom kalten Boden auf und klopfte den Dreck an Beinen und Po ab.
„Danke, dass du heute gekommen bist. Sie hätte sich gefreut.", murmelte sie, als sie einen letzten Blick auf das Meer aus Blumen warf und sich dann mit langsamen Schritten von ihm entfernte.
*****
Abgeschlossen oder nicht abgeschlossen? Ich bin mir unsicher.
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Mein Weg zu dir
Romance"Ihr Blick fiel nochmals auf das reich geschmückte Grab vor ihr. Als die Glocken zu läuten begannen, war es in der Kirche mucksmäuschenstill geworden, obwohl jeder einzelne Platz besetzt war und einige sogar im Türbereich standen. So viele Menschen...