Man darf dich nicht finden.

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So leise wie möglich schloss Helena die Tür hinter sich. Was sie früher gelangweilt hatte, gereichte ihr nun zum Glück – ihre beste Freundin und Zimmergenossin Edith pflegte nach dem Nachmittagsunterricht stets eine kurze Zeit zu schlafen, was ihr die Gelegenheit gab, sich um den Soldaten zu kümmern.

Sie glaubte nicht, dass er im Krieg auf Seite der Deutschen war, sicher war nur, dass seine zerfetzte Uniform nicht die eines Deutschen war. Helena wusste kaum etwas über ihn, denn im schummrigen Licht des Kellers hatte sie ja nicht einmal die Farbe seines Haars erkennen können. Er war bei ihren wenigen Besuchen nie ansprechbar gewesen, bewusstlos, schlafend oder vom Schmerz überwältigt. Denn wie um alles in der Welt er auch in den Keller der Schule, mitten in der Stadt, gekommen war, es war ein Wunder, dass er seinen Verletzungen noch nicht erlegen war. Allerdings war es auch ein Wunder, dass ausgerechnet Helena ihn gefunden hatte, und nicht eine der Lehrkräfte, oder noch schlimmer: eine der Dominikanernonnen, die der Schule noch aus früheren Zeiten geblieben waren.

Das Chaos im Keller war ein Glück für den Soldaten, denn die vielen Kartons dämpften das schmerzerfüllte Stöhnen, dass ihm manchmal entfuhr, und versteckten ihn vor neugierigen Blicken. Helena hatte ihn nur gefunden, weil sie das getrocknete Blut an einigen Kartons bemerkt hatte. Es war früh morgens gewesen, unmittelbar nach Ende des Gottesdienstes, den abzuhalten sich die verbliebenen Nonnen sich nicht nehmen ließen. Der Keller war ein unheimlicher Ort, aber der kleine Kapellraum verwandelte sich einmal die Woche inmitten des Krieges in eine Oase voller Musik und Gesang. Und deshalb besuchte Helena diese kleinen Messen. Es war eine der wenigen Ausflüchte aus ihrem Alltag. Aber die Entspannung war gleich wieder verschwunden, als sie als erste aus dem Raum trat und das getrocknete Blut am Boden und die kaum erkennbaren rötlich braunen Handabdrücke auf den hellen Kartons bemerkte. Einem Impuls folgend hatte sie sich davor gestellt und sie vor Blicken geschützt, bevor sie auf Edith gewartet hatte, die stets als Letze den Gottesdienst verließ.

Am Nachmittag war sie zurückgekehrt und hatte nach dem Menschen gesucht, dessen Hände dermaßen mit Blut befleckt waren.

Es war sein eigenes.

Helena hatte sich zurückhalten müssen, nicht aufzuschreien, als sie zwischen den Kartons im Keller der Schule, einer reinen Mädchenschule wohlgemerkt, einen Soldaten entdeckte. Seine Uniform hing in Fetzten, besonders der linke Ärmel war kaum noch als solcher zu erkennen und teilweise in den Schorf der Wunde eingewachsen, die ihn in Blut getränkt hatte. An den Beinen war sie zusätzlich noch versengt, stellenweise waren Löcher hinein gebrannt und dort hatte auch die Haut Brandblasen geworfen. Die Jacke war aufgerissen und entblößte eine Schürfwunde, die sich von der linken Hüfte quer über seine muskulöse Brust bis zum rechten Schlüsselbein zog. Vollkommen gerade und durchgängig etwa zwei Fingerbreit, konnte sie nur schnell und mit Schwung entstanden sein.

Das Licht der einsamen Glühlampe, die einige Dutzend Meter entfernt vor sich hin flackerte, reichte nicht aus, um Helena die Wunden des Soldaten in ihrem ganzen Ausmaß zu enthüllen. So konnte sie allerdings auch nicht viel von ihm selbst erkennen. Er war muskulös, keine Frage, und hatte breite Schultern, doch sein ausgezehrtes Gesicht war kaum von dem diffusen Licht beleuchtet und war ihr so fast vollständig verborgen geblieben. Er trug einen Oberlippen- und Kinnbart, und sein volles Haar schimmerte in der Dunkelheit. Das letzte, was Helena auffiel, bevor sie fluchtartig den Keller verließ, war die Aufschrift auf der halb abgerissenen Brusttasche. „W.Carmichael".

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Darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, hatte Helena einen Stopp in der Küche eingelegt, wo sie etwas zu Essen und Salben für den Soldaten, respektive seine Wunden, mitgehen ließ. Nun stahl sie sich auf leisen Sohlen hinunter in den Keller. Nicht auszudenken, was hier los wäre, sollte jemals herauskommen, dass sie einen höchstwahrscheinlich feindlichen Soldaten gesund zu pflegen versuchte. Denn das Chaos, das dem Soldaten im Moment noch Schutz bot, würde ihm spätestens Ende Februar zum Verhängnis werden, wenn die Schule von der von Hitler geleiteten Regierung übernommen wurde. Und die würde ihm zweifellos nicht das Leben schenken. Und das war wiederum der Grund warum sie ihn so schnell wie möglich hier wegschaffen sollte - nur hatte sie leider keine Ahnung, wie.

Man darf dich nicht finden. ~ OneshotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt