Das chinesische Wort für Krise besteht aus zwei Schriftzeichen. Eines heißt Gefahr. Eines heißt Chance. Merk dir das.
Seltsamerweise war das eines der ersten Dinge, die Evangeline durch den Kopf gingen, als man ihr von Richards Tod berichtete. Wobei - es war seine letzte Nachricht gewesen.
Für Immer. Das war nichts, an das sich Evangeline so schnell gewöhnen würde.
Dabei hatte sie sich bereits damit abgefunden, Richard zu heiraten. Sie hatten zusammen Pläne geschmiedet, er hatte versprochen,sich ihr Erbe nicht einfach einzuverleiben, er hatte versprochen, sie würden zusammenarbeiten. Er hatte von all ihren Hoffnungen und Zweifeln gewusst, hatte, wann immer und so gut es ging mit ihr daran gearbeitet, sie zu erfüllen oder aus dem Weg zu räumen. Er war auf sie eingegangen. Hatte sie und ihre Wünsche respektiert. Und nun war er fort. Es war verwirrend. Frustrierend.
Aber vor allem tat es weh. Denn er war nicht nur ihr Verlobter gewesen, den sie gerade zu lieben gelernt hatte. Er war ihr bester Freund gewesen. Und nun war er fort.
Eines heißt Chance. Merk dir das.
Das abzuschicken, war vielleicht das Letzte, das Richard in seinem Leben getan hatte. Er hatte gewusst, dass er sterben würde.
Evangeline zitterte. Der Polizist, der vor einigen Minuten vor ihrer Haustür aufgetaucht war, hatte gesagt, dass Richard in einem Feuer umgekommen war. Jemand hatte im Herrenhaus der Bannings Feuer gelegt und Richard war einer Rauchvergiftung erlegen, nachdem er seinen kleinen Bruder Jasper und seine acht Monate alte Schwester Claire aus dem brennenden Haus gerettet hatte. Das Erdgeschoss stand zu dem Zeitpunkt schon in Flammen, und Richard kam vermutlich gerade von der Uni, weshalb er es nicht früher bemerkt hatte.
Die Nachricht, die er Evangeline geschickt hatte, war um 16:42 Uhr auf ihrem Mini-Plex angekommen. Die Polizei schätzte den Todeszeitpunkt auf etwa 16:50. Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter.
Evangeline konnte hören, wie ihre Eltern mit dem Polizisten sprachen. Aber sie hörte nicht, was sie sagten. Es war ihr egal. Es interessierte sie nicht.
Richard war tot. Evangeline atmete tief durch. Dann wischte sie sich die Träne weg und stand auf.
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Entnervt fuhr sie sich durch die Haare, machte auf dem Absatz kehrt und schritt zum Fenster. Kurz stützte sie die Unterarme auf der Fensterbank auf und schaute hinaus, dann schüttelte sie den Kopf und ging den gleichen Weg zurück.
Seit einer halben Stunde ging das nun schon so. Wütend starrte Evangeline auf das Mini-Plex, dass sie in einer Halterung an die Innenseite ihres Unterarms geschnallt hatte. Es zeigte noch immer holografisch die zuletzt empfangene Nachricht an, und die war von Richard gekommen.
Er hatte sie nur Minuten vor seinem Tod geschrieben, also war mehr als klar, dass er ihr etwas hatte mitteilen wollen. Und Evangeline wollte wissen, was.
Was die Krise bedeutete, war einwandfrei klar. Richard war tot - das bedeutete, sie hatte ihren besten Freund aus Sandkastentagen verloren. Ihren Verlobten, der zugleich ihre Hoffnung dargestellt hatte. Es bedeutete, dass Evangeline Byron, Erbin von zweiundfünfzig Prozent von Byron Industries wieder zu haben war, und obwohl sie nicht darüber nachdenken wollte, fragte sich ein zynischer Teil von Evangeline, wann ihre Eltern das wohl zur Sprache bringen würden. Sie würde sich vor Angeboten nicht retten können, das wusste sie noch aus der Zeit vor der Bekanntgebung ihrer Verlobung mit Richard, und man würde ihr Bewerber für Bewerber für Bewerber vorstellen. Ihre Eltern würden nächtelang über den Formbriefen der Heiratsanwärter brüten und überlegen, welche Verbindung wohl am vorteilhaftesten wäre. Evangeline verabscheute es, auch nur daran zu denken.
Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Krise. Gefahr. Chance.
Die Krise, in die Richards Ableben ihre Familie gestürzt hatte, barg die Gefahr all der Anwerber, die Evangeline so fürchtete, aber auch ihre Chance, für ihre eigenen eigentlich nicht existenten Rechte einzutreten.
Ihr wurde warm ums Herz. Richard war gestorben, um seine Geschwister zu retten und hatte ihr in seinen letzten Momenten eine Möglichkeit geschenkt, seine Versprechungen zu erhalten, auch wenn er selbst ging.
Nun weinte sie doch. Erneut wurde ihr klar, was für ein unmöglich guter Mensch Richard war. Gewesen war. Sie würde ihre Eltern zu irgendetwas überreden. Sie würde Richards Bemühungen ehren.
Der Gedanke war ermutigend, aber er machte nichts wieder gut. Stattdessen machte er alles viel realer. Still weinend ging Evangeline auf Verbindungstür zu Heathers Zimmer zu. Mit einem leichte Knarren schwang sie auf. Schweigend streckte Evangeline die Arme aus und drückte ihre Schwester an sich.
Richards Geschenk konnte warten. Für den Moment brauchte sie Trost.
N'Abend!
Ich hoffe der Anfang meiner Geschichte hat euch gefallen.
Vorab: ich werde nicht regelmäßig aktualisieren, dazu ist mein Zeitplan zu unberechenbar. Aber ich habe einen Anfang gemacht, und das heißt fürs erste, dass es weiter geht. Ich weiß nur nicht, wann.
Jegliche Art von Feedback ist gerne gesehen, also ab damit in die Kommentare!
Wir sehen uns.
-JuliaP.S. Das Mini-Plex ist an das Plex aus der Serie "Terra Nova" angelehnt, es ist eine Art doppelte Plexiglasscheibe mit einem seitlichen Griff und kann ungefähr das, was ein Smartphone/Tablet auch kann.
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Vierzehn Stufen (Arbeitstitel)
RomanceIn einer nicht allzu fernen Zukunft sind die gesellschaftlichen Schichten in zwanzig Stufen aufgeteilt, die aus Faktoren wie Wohlstand, Wohnort und Beruf bestimmt werden. Als mehrheitliche Erbin einer großen Firma ist Evangeline in den höchsten Kre...