Prolog

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„Ihr Menschen, ihr wollte glücklich sein? Der Weg zum Glück ist ein schmaler und steiniger Weg. Verzweifelt nicht, ich werde ihn euch zeigen.

Denkt nicht groß, denkt klein. Erfreut euch an der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Vom Aufblicken und Nachdenken werdet ihr nicht satt. Darum blickt niemals über die Mauer. Kümmert euch nicht um das Morgen.Für Veränderungen seid ihr zu schwach. Ihr findet das wahre Glück, wenn ihr euch durch Demut würdig erwiesen habt. Arbeitet und betet. Was geschieht ist mein Wille.“

So sprechen Götter.

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Prolog

Im Winter 1241

Vielleicht weiß es schon der ganze Erdenkreis. Nur ich kann die Wahrheit nicht sehen. Bin ich nur verblendet, oder habe ich mir die schwere Prüfung der Bedingungslosigkeit selbst auferlegt? Lange Zeit konnte ich alle Versuchungen von meiner Seele fern halten. Es war nicht immer einfach, aber ich habe seiner Herrlichkeit vertraut. Jetzt, in den letzten Stunden meines Lebens, fällt es mir immer schwerer, mein Wissen zu leugnen. Mein Geist ist voller Zweifel und mein Herz voller Bitterkeit. Nur darum und bevor ihr mich vergesst, hört wie es mir ergangen ist.

Es geschah vor vielen Tagen und Nächten. Ich war noch ein junger Mann und die Last des das irdischen Lebens lag noch vor mir. Zuerst dachte ich an ein teuflisches Trugbild und ich wollte die Gestalt durch meine Gebete verjagen. Dann erkannte ich im strahlenden Himmelslicht einen wunderschönen Engel.

Vielleicht werdet ihr es mir nicht glauben, aber der Engel hat mit sanfter Stimme zu mir gesprochen: „Marinus, du bist auserwählt und du darfst dich entscheiden. Möchtest du die Wege des Herrn sehen und möchtest du sie auch verstehen?“

Der Engel war mir zum Greifen nah, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Meine Knie zitterten und ich fiel auf den Boden. Vor Ehrfurcht begrub ich mein Gesicht im Staub und ich wagte nicht aufzusehen. Die Fragen des Engels waren zu ungeheuerlich. War es mir wirklich gestattet, den unergründlichen Willen und die Herrlichkeit unseres Herrn zu begreifen?

Lange, sehr lange lag ich im Staub. Plötzlich spürte ich eine nie zuvor erlebte Kraft in mir. Meine Neugier war größer als meine Angst, obwohl ich wusste, dass meine Antwort nur Blasphemie sein konnte. Ich sah auf und flüsterte zaghaft: „Ja, ich möchte die Wege des Herrn verstehen.“

Der Engel sah mich an und jäh verfinsterte sich der Himmel. Wie von tausend Rössern gezogen, schoben sich schwarze Ungetüme vor die Sonne. Aus den Augen des Engels schossen feurige Blitze. Um sein Haupt mit dem goldenen Lockenhaar war kein Leuchten mehr, und in seiner Rechten hielt er ein flammendes Schwert. Glutroter Nebel, wie der Vorbote eines alles vernichtenden Sturms, umgab ihn. Dann hob er seinen rechten Arm, und für einen Moment sah es aus, als ob er mich mit einem mächtigen Schlag vernichten wollte. Aber er schlug nicht zu, und aus seinem Mund kam kein Donnergrollen. Seine Stimme war voller Liebe, als er zu mir sprach: „Mein Auftrag ist, dir Pfade zu zeigen, damit du den Willen des Herrn verstehst. Doch das wirst du nur erreichen, wenn du vier einfache Aufgaben lösen kannst. Aber ich warne dich, wenn du versagst, wirst du für immer geblendet. Deine Seele wird zu Stein und für alle Zeiten verloren sein. Bist du nun bereit?“

Ich wagte nicht ihn anzusehen. Zu furchteinflößend erschien mir die Gestalt, und dazu kam die Sorge um meine unsterbliche Seele. Doch meine schändliche Neugier war größer, und ich habe geantwortet: „Ja, ich bin bereit. Ich möchte die Wege des Herrn verstehen.“

Da sprach der Engel zu mir: „Sag mir das Gewicht des Feuers, und zeig mir ein gerechtes Maß für den Wind. Dann zähle die Wassertropfen im Fluss. Wenn du darauf Antworten weißt, hol den Tag deiner Geburt zurück. Wenn du diese vier Aufgaben lösen kannst, wird es dir möglich sein, die Wege des Herrn zu betreten, und du wirst die Gabe erhalten, neues Leben zu erschaffen.“

Verzweifelt warf ich mich in auf die Erde und schluchzend flehte ich den Engel an: „Wie um alles in der Welt soll ich diese Fragen beantworten. Ich kann weder das Feuer, noch das Wasser, auch nicht den Wind, oder das was geschehen ist beherrschen.“

Der Engel lächelte mitleidig, bevor er weitersprach: „Du erbärmlicher Wurm. Warum lügst du mich an. Hätte ich dich gefragt, wie viele Tore die Hölle hat, oder was sich hinter der Mauer verbirgt, die das Paradies beschützt, dann hättest du mir ohne Zögern geantwortet und behauptet, du wüsstest ganz genau, wie es dort aussieht. Aber du fürchtest dich vor der Hölle und du konntest noch keinen Blick in den himmlischen Garten werfen. Du denkst nur, dass es das Paradies mit all seiner Herrlichkeit gibt, und du fürchtest dich, weil man dir gesagt hat, dass die Hölle existiert.

Nun habe ich dich zu so allgegenwärtigen Dingen wie das Feuer, den Wind, das Wasser oder deine Vergangenheit gefragt. Und du, der behauptest die himmlischen Orte zu kennen, kannst dich nicht erinnern, wie du das Licht der Welt erblickt hast.“

Ich war verzweifelt. Was sollte ich auf diese Fragen antworten? Aber der Engel sprach weiter zu mir: „Du sagst, du kannst so einfache Dinge mit denen du verwachsen bist und mit denen du lebst, nicht erkennen. Wie willst du, ein sterblicher Mensch, dann die Wege des Allmächtigen begreifen?“

Dann verschwand der Engel und er ist mir nie wieder erschienen. Lange Zeit nahm ich an, dass es vielleicht nur ein Trugbild gewesen war. Doch seit diesem Tag frisst in meinem Herzen eine Wurm, der sich von meinem Geist ernährt.

In meinem kurzen Leben bin ich viele Wege gegangen. Oft waren es steinige und schmale Pfade, und manchmal bin ich auch wie ein König auf prachtvollen Straßen geschritten. Ich habe viel von dieser Welt gesehen, aber jetzt, am Ende meines Lebens umgibt mich die ewige Dunkelheit. Mein Augenlicht ist erloschen. Nach so langer Zeit hat der Engel sein Versprechen doch noch wahr gemacht.

Darüber bin ich nicht traurig, weil mich die Nacht davor beschützt, weiterhin nach den Wegen des Herrn zu suchen. Doch ich bin mir sicher, eines Tages und vielleicht schon bald, werden die Menschen nicht mehr vor Angst zittern und sich nicht mehr in den Staub werfen. Sie werden sehen, sie werden suchen und mutig die Fragen des Engels beantworten.

Einen Rat möchte ich euch noch auf den Weg geben: Verzagt nicht, wenn euch der Mut verlässt. Ich weiß, ihr werdet mich verdammen und meine Seele in die Hölle wünschen, aber ich sage euch: Menschen sind schwach, sie sind gierig und sie sind anfällig für Sünden. Es gibt Auserwählte die zu Göttern gemacht werden, und es gibt Götter die menschliche Söhne zeugen. Die Suche nach dem Willen Gottes und das Ergründen der Eigenschaften der Dinge gehören nicht zusammen. Der Wille Gottes ist nur ein betrügerischer Zweck, um euch zu verwirren. Es gibt keinen heiligen Sinn im Leben und es gibt keine göttliche Allmacht. Nur eines ist sicher: Gott ist nicht in den Menschen, und Menschen sind keine Götter. Auf Fragen gibt es Antworten, wenn ihr danach sucht und euch nicht blenden lasst.

Marinus von Metling     Erzählt und geschrieben im Jahr 1241

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