Namenlos

14 0 0
                                    

Namenlos

„Wär' aller Menschen Denken gleich, dann gäb' es weder Arm noch Reich.“

Winter 1177 / 1178

____________________

Im Winter lebten sie im unzugänglichen Wald in einer flachen, sich an einen Hang lehnenden Hütte. Es war eine armselige Behausung aus grob behauenen Baumstämmen und mit Lehm verpatzten Flechtwänden, aber für die kleine Gruppe war es ein Gottesgeschenk. Die Knochen und Schädel der ehemaligen Bewohner hatten sie ins Freie geworfen, und sie waren froh, dass sie einen Platz zum überwintern gefunden hatten. Das mit Stroh und Zweigen gedeckte Dach verschmolz im tiefen Schnee zu einer Einheit mit der Umgebung. Wer im Wald, vielleicht getrieben durch einen Zufall, oder durch göttliche Fügung geleitet, auf die Lichtung stieß, konnte nur ahnen, dass hier Menschen lebten.

Die Tage verbrachte sie dösend im halbdunklen Dämmerlicht. Beschützt in der Wärme der Hütte war es besser, die Tage zu verschlafen, als in tagelangen Märschen durch Schnee und Eis die Weiler und Bauern zu überfallen. Thoralf hatte die Vorräte klug eingeteilt, und die Starken und Gesunden konnten den Winter überstehen, und um die Schwachen war es nicht schade.

In der Horde hatte sie gelernt, sich mit kehligen Lauten zu verständigen. Mit gellenden Schreien konnte sie ihre Angst ausdrücken oder vor Gefahren warnen. Ein glucksendes Lachen war ein Zeichen von Freude, wenn sie geneckt und gekitzelt wurde. Sprechen konnte sie nur in einer Mischung von kaum verständlichen Schnalz- und Zischlauten, Worten nur entfernt ähnlich. Sie hatte auch gelernt ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und sich in der Hierarchie der Gruppe anzupassen. Schläge waren selten, und das was man ihr zum essen gab, war mehr, als das was sie vorher hatte. Sie war in Sicherheit, denn sie war der Besitz des Stärksten der Horde, der sie für sich beanspruchte.

Sie fürchtete sich vor Thoralf und gleichzeitig sehnte sie sich nach ihm, wenn er wieder tagelang verschwunden war. Aber er kam immer zurück und einmal brachte er wunderschön glänzende Gegenstände mit, deren Zweck sie nicht verstand. Sie bewunderte ihn, denn er war der Einzige, der mit einem einzigen Schlag seiner Faust einen Angreifer niederstrecken konnte. Manchmal, wenn er Wein getrunken hatte, durfte sie auch sein großes, schweres Beil berühren, mit dem er schon viele Feinde getötet hatte. Sie fühlte sich wohl und sicher.

JOAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt