Unruhig rutschte Stefan Krüger auf dem Autositz herum. Sein Hintern schmerzte vom stundelangen Sitzen. Krampfhaft klammerten sich seine Hände am Lenkrad fest. Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, doch er durfte die Suche nicht aufgeben. Wie ein Raubtier auf der Jagd nach seiner Beute, sperrte er die Augen weit auf und hielt Ausschau nach einer Bewegung am Strassenrand. Seine Augen brannten, was einerseits daran lag, dass er ständig ins Dunkle starrte, andererseits aber sicherlich auch daran, dass er seit drei Nächten kein Auge mehr zugetan hatte. Maria, seine Frau, sperrte sich im eigenen Haus ein und trauerte laut vor sich hin. Schon bald hatte er ihr Weinen nicht mehr ausgehalten und das Haus verlassen. Er war in seinen grauen Mercedes gestiegen und losgefahren. Von den Toten konnte er seine Tochter nicht mehr zurückholen, soviel stand fest. Trotzdem gab es eine Möglichkeit, wie er ihren Tod rächen konnte und er würde alles daransetzen, diese zu nutzen. Freitagabend, den ganzen Samstag und den ganzen Sonntag sass Stefan in seinem Auto und fuhr die Strassen der Insel ab. Mittlerweile war es Montagabend. Direkt nach Feierabend hatte er seinen Arbeitsplatz verlassen und seine Suche fortgesetzt. Noch immer hatte er den Mistkerl nicht gefunden. Gerade bog er von der St. Lorenz Strasse in die Küstenstrasse ein. Auf der Meeresseite fiel das Gelände stark ab und gegenüber erstreckte sich eine massive Steinmauer, welche die Einwohner der Insel zum Schutz vor den Sturmfluten erbaut hatten.
Für den Bruchteil einer Sekunde fielen seine Augenlider zu, ehe er hochschreckte und sich wieder zusammenraufte. Er durfte jetzt nicht aufgeben! Der Mann musste noch auf der Insel sein, da war er sich sicher. Nach all dem Unglück der letzten Tage hätte er durchaus etwas Glück verdient.
Hell leuchtende Laternen säumten die Strasse. Der ständige Wechsel von hell zu dunkel trieb Stefan langsam in den Wahnsinn. In weiter Ferne erspähte er einen schwarzen Punkt. Zweifelsfrei handelte es sich um einen Menschen. Schlagartig richtete sich Stefan auf und blickte konzentriert in Richtung des schwarzen Schattens. „Das ist er!", schrie sein Hirn. Er schwor sich, nach Hause zu Maria zurückzukehren, sobald er sichergestellt hatte, dass es sich beim Unbekannten in der Ferne nicht um die gesuchte Person handelte. Um das Gesicht des Unbekannten besser betrachten zu können, nahm er den Fuss leicht vom Gaspedal. Im Schneckentempo näherte sich sein Wagen den dunklen Umrissen am Strassenrand, die je näher man ihnen kam, immer mehr die Konturen eines Mannes annahmen. Der Mann auf dem Trottoir musste die Motorengeräusche gehört haben. Direkt unter dem Lichtkegel einer Strassenlaterne stehend, drehte er sich um und sah Stefan in die Augen. Beide erstarrten für einen kurzen Augenblick. „Das ist er!", schoss es erneut durch Stefans Kopf. Der Unbekannte löste sich vor Stefan aus der Erstarrung und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, davon. Mit Daumen und Zeigefinger kniff sich Stefan kräftig in den Unterarm, dann presste er seine Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Unter dem nächsten Lichtkegel huschte eindeutig ein dunkler Schatten hindurch. Er träumte nicht! Stefan musste handeln. Mit einem harten Tritt drückte er das Gaspedal voll durch. Der Motor heulte laut auf und beschleunigte den Wagen innerhalb von Sekunden auf ein rasantes Tempo. Innerhalb kürzester Zeit hatte Stefan den Unbekannten bereits wieder eingeholt. Er überholte ihn um einige Meter, bremste scharf ab und warf sich aus seinem Wagen. Mit zittrigen Beinen und verschwommenem Blick näherte sich Stefan dem Unbekannten. Der Mann auf dem Bürgersteig bewegte sich keinen Zentimeter. Stattdessen hob er die Hände in die Luft, als würde er jeden Moment von der Polizei verhaftet. Mit tiefhängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er neben einer der Strassenlaternen und gab sich seinem Schicksal hin. Währenddessen wurden Stefans Schritte immer schneller. Der Herzschlag, den er im Halsbereich spürte, war definitiv zu schnell. Jede einzelne Muskelfaser in seinem Körper war angespannt. Mit ausgestreckten Armen rannte er auf den Unbekannten zu. Als er den Mann am Kragen packte, konnte Stefan spüren, dass dieser am ganze Leib zitterte. Die stoppligen Haare, schwarz wie Kohle, die smaragdgrünen Augen und die Hakennase liessen keinen Zweifel aufkommen, dass es sich beim Unbekannten um den gesuchten Zeugen handelte. Mit roher Gewalt drückte Stefan den Unbekannten an die Steinmauer, die sich hinter ihnen befand.
„Wer sass im Auto?", schrie Stefan viel zu laut.
Der Mann schwieg.
„Du hast ihn gesehen! Das weiss ich!"
Keine Reaktion.
„Wie heisst du? Wie ist dein verdammter Name?"
Stefan hob den Mann leicht vom Boden hoch und schüttelte ihn heftig. Erst als der Unbekannte den Mund öffnete, um etwas zu sagen, stellte ihn Stefan wieder auf den Boden.
„Es tut...", dann brach der Unbekannte ab.
„Sag mir endlich wer im Auto sass! Sag mir einen Namen!"
Stefan trat mit seinem rechten Fuss so fest er konnte gegen die Steinmauer. Einige Kieselsteine lösten sich aus den Ritzen und rieselten auf den Asphaltboden herunter.
Ohne Vorwarnung verpasste er dem Unbekannten einen kräftigen Kinnhacken, so dass dieser das Gleichgewicht verlor und gegen die Mauer fiel.
„Jetzt nenn mir endlich einen Namen!", rief er zum wiederholten Male.
Der Mann, der auf dem Boden lag hielt seine Lippen weiterhin verschlossen. Also packte ihn Stefan wieder am Kragen, hob ihn hoch und drückte ihn erneut gegen die Steinmauer.
„Es tut...", begann der Unbekannte.
„HEEEE, SIE DA, LASSEN SIE DEN ARMEN MANN IN RUHE!", ertönte ein laute Männerstimme.
Ein leicht gebückt gehender Herr, mit dem Hund an der Leine, schritt auf die beiden Männer zu. Erschrocken blickte sich Stefan um. Diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nutzte der Unbekannte zur erneuten Flucht. So schnell er konnte, rannte Stefan zurück zu seinem Wagen. Noch bevor der Mann mit Hund ihn erreichte, brauste Stefan auch schon davon. Bereits nach wenigen Metern tauchte der Unbekannte wieder im Scheinwerferlicht auf. Stefan überlegte sich, ob er es noch einmal wagen sollte, auszusteigen, um ihn zur Rede zu stellen.
In diesem Moment verschwand der Mann durch ein Tor in der Steinmauer in eine dunkle Gasse. Um ihm folgen zu können, musste Stefan seinen Wagen am Strassenrand stehen lassen und aussteigen. Unbemerkt verfolgte er den Mann zu Fuss, bis der Unbekannte durch eine gläserne Eingangstür in ein Mehrfamilienhaus verschwand. Lange Zeit passierte gar nichts. Unruhig kaute Stefan an seinen Fingernägeln herum. Gerade wollte er nachsehen ob sich der Mann vielleicht nur im Haus versteckt hatte und gar nicht dort wohnte, da wurde im obersten Stockwerk das Licht angezündet. Hinter der grossen Fensterscheibe war ohne Zweifel die Silhouette des Unbekannten zu sehen. Vorsichtshalber nur im Dunkeln gehend, bewegte sich Stefan auf das Haus zu. Bei jedem kleinsten Geräusch, blieb er stehen und schaute sich um. Als Stefan die Türklinke herunterdrückte, dankte er Gott, dass sich die Tür öffnen liess. Mit grosser Vorsicht schlich er Stufe für Stufe bis ins oberste Stockwerk hinauf. Dort angekommen, lauschte er nach verdächtigen Geräuschen, aber alles blieb still. Im schwachen Licht war nur schwer zu entziffern, was auf dem Schild unter der Klingel geschrieben stand. Deshalb musste Stefan sehr nahe an die Wohnungstüre treten, um den Namen darauf zu lesen. In einer schwer leserlichen Handschrift stand Bernard Zwingli darauf geschrieben. Bernard Zwingli, Bernard Zwingli, Bernard Zwingli. Um den Tod seiner Tochter zu rächen hatte er drei Nächte nicht geschlafen, sass etliche Stunden im Auto und wurde gewalttätig. Nun besass er wenigstens den Namen des einzigen Zeugen. Den ganzen Aufwand war es allemal wert gewesen, schliesslich wusste dieser Mann, wer seine Tochter überfahren hatte. Da war sich Stefan Krüger ganz sicher.
/// wenn euch das erste Kapitel gefallen hat, würde ich mich sehr über einen netten Kommentar freuen :D
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Ein wahrer Freund
Mystery / ThrillerEin unschuldiges Mädchen wird überfahren. Bernard sieht das Gesicht des Fahrers. Er ist der einzige Zeuge. Aber er schweigt. Die Polizei lädt ihn vor. Er schweigt. Sein jähzorniger Vater stellt ihn zur Rede. Er schweigt. Erst als ein alter Freund vo...